11KM: der tagesschau-Podcast: Wegen Armut ins Gefängnis: Wie gerecht ist unsere Strafjustiz?

tagesschau tagesschau 6/7/23 - Episode Page - 29m - PDF Transcript

Stell dir mal vor, du bekommst einen Brief, öffnest ihn und darin steht, du musst ins Gefängnis.

Einen Anwalt oder ein Gericht hast du bis dahin nie gesehen.

Tatsächlich landen Menschen so im Gefängnis, in Deutschland.

Ohne je ein Gericht sei, von innen gesehen zu haben.

Und das wegen Vergehen wie fahren ohne Fahrschein oder gestohlenem Essen im Supermarkt.

Dazu kommt, das trifft vor allem Menschen mit wenig Geld.

In dieser FKM-Folge erzählen wir, warum, wie viel wir verdienen, mit darüber entscheidet, wie der Rechtsstaat mit uns umgeht.

Und ob der Grundsatz, das vor dem Gesetz alle gleich sind, dann überhaupt bestand hat.

NDR-Reporterin Isabel Schneider hat dazu mit Alex Grantel und Klaus Wilhelm Brandenburg recherchiert.

Sie hat mit Menschen gesprochen, die wegen nicht gezahlten Geldstrafen im Gefängnis sitzen.

Und wirft mit uns heute einen tiefen Blick ins deutsche Justizsystem.

Hallo Isabel. Hallo Victoria.

Ihr hört FKM, der Tagesschau-Podcast. Ein Thema in aller Tiefe.

Mein Name ist Victoria Michalsack und heute ist Mittwoch, der 7. Juni.

Ihr habt ja was geschafft, was echt nicht viele schaffen.

Ihr durftet mit einer Kamera drehen in einem Gefängnis, in einer JVA.

Für alle, die noch nie in einem Gefängnis waren, wie sieht es da aus?

Ja, also ich muss dazu sagen, ich war auch noch nie vorher in einem Gefängnis bis zu unserem ersten Drehtag dort.

Und von außen sieht alles erst mal klassisch nach Gefängnis aus.

Also kannst dir vorstellen, dicke hohe Mauern, Stacheldraht, Überwachungskameras.

Und das erste, was wir so als Drehtim gelernt haben, ist durchtreten.

Denn es gibt da so Schleusentüren, die sich automatisch schließen.

Und wenn man zu langsam ist, dann hat man ein Pech gehabt, im schlimmsten Falle.

Wie, dann steht man draußen?

Ja, dann steht man in der Schleuse, im schlimmsten Fall.

Und dann muss nochmal die Tür aufgemacht werden und so weiter.

Durchtreten, das sagen die Leute dann oder?

Das hat uns die Pressesprecherin immer gesagt, mit der wir da unterwegs waren an dem Tag.

Okay, und wenn man dann durchgetreten ist, was sieht man dann da?

Also wenn man durch diese Eingangsforte tritt, dann kommt man in den Innenhof.

Und wir waren vor allem im Gefängnis in der JVA Plätzensee im Haus A.

Die JVA Plätzensee, wo ist die genau?

Die ist im Westen von Berlin, so ein recht altes und großes Gefängnis.

Und da, um da hinzukommen und in dieses Haus A zu kommen,

geht man durch ein großes blaues Tor.

Und dahinter beginnt dann quasi erst der Zellentrakt.

Und innen gibt es dann sehr lange karage Flure.

Die Zellentüren sind so in dunkelrot angestrichen, die rein sich so aneinander.

Und es riecht auch so ein bisschen modrig, oft auch ein bisschen nach Rauch,

weil mal wieder jemand in der Zelle geraucht hat.

Die Gänge und die Zellen sind auch sehr hellhörig.

Das heißt, man hört sehr viel von den Gefangenen, also Musik, Fernseher.

Man hört auch, wenn es mal lauter wird oder die Toilettenspülung.

Ja, es war schon ein besonderes Gefühl, da so durch die Gänge zu gehen beim ersten Mal.

Und ich weiß noch, wie ich dann an dem Abend quasi, nach dem ersten Dreh,

dort so ein bisschen dachte, hm, jetzt habe ich das erste Mal wirklich verstanden,

was es heißt, wenn Menschen so eingesperrt werden.

Also es klingt jetzt so ein bisschen naiv.

Und es ist vielleicht auch, aber dieses Konzept, die Idee,

man lässt Menschen mit ihrer Freiheit Strafen absetzen oder bezahlen.

Das ist mir zum ersten Mal klar geworden.

Ich durfte da nicht nur auf dem Gang filmen, drehen,

sondern auch mit einigen, die da im Gefängnis sitzen, inhaftiert sind.

Wenen habt ihr da getroffen?

Also ich bin mit einem leeren Rucksack in den Laden reden.

Ich habe mir ja alles vorgestuft, was ging,

und bin dann einfach aus dem Laden spaziert.

Ja, das ist halt regelmäßig.

Patrick Haar, der ist 28 Jahre alt

und der ist dort in der JVA Plötzensee,

weil er mehrere Ladendiebstähle begangen hat

und immer wieder Lebensmittel geklaut hat in den vergangenen Jahren.

Vor allem, weil er halt sein Geld,

was er eigentlich zur Verfügung hatte, für Drogen ausgegeben hat.

Und hat dann für diese Diebstähle,

die zuletzt sich gehäuft haben, eben diese Geldstrafen bekommen.

Ich habe schon viel Schaden angeschickt,

weil ich war fast täglich in irgendwelchen Leben

und es kostet auch viel Geld so.

Also jahrspurig ist es schon.

Als wir ihn getroffen haben in der JVA,

hat er gerade eine Strafe in Höhe von 810 Euro abgesessen.

Und so eine Geldstrafe, die setzt sich immer zusammen aus Tagessätzen.

Das heißt, man kriegt eine Geldstrafe X,

die setzt sich zum Beispiel zusammen aus 30 Tagessätzen.

Und diese Tagessatzhöhe, die orientiert sich am Netto-Einkommen.

Das heißt, ein Tagessatz ist quasi ein Dreißigstil des Netto-Einkommens,

also eigentlich das Tagesbudget, was man so zur Verfügung hat.

Du hast jetzt gesagt, er wurde zu einer Geldstrafe verurteilt.

Er ist aber jetzt in Haft. Wie ist er dann ins Gefängnis gekommen?

Also bei Patrick ist es so, der sitzt im Gefängnis

wegen einer sogenannten Ersatzfreiheitsstrafe.

Und eine Ersatzfreiheitsstrafe, das ist so ein sehr deutsches Wort.

Im Strafgesetzbuch steht der schöne griffige Satz,

anstelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt Freiheitsstrafe.

Das heißt also, man bekommt zuerst eine Geldstrafe.

Und wenn man die nicht bezahlt und auch nach mehreren Aufforderungen nicht bezahlt,

wird diese umgewandelt in eine Freiheitsstrafe.

Das heißt, wer seine Geldstrafe nicht zahlen kann oder will,

der muss ins Gefängnis.

Und bei Patrick war das halt so,

der hat erst ganz viel Post bekommen von der Justiz,

hat die aber immer wieder ignoriert quasi

und hat also gar nicht so richtig mitbekommen,

dass es dann umgewandelt wurde in einer Freiheitsstrafe

und irgendwann steht dann die Polizei vor seiner Tür.

Das ist ja auch kein gewöhnliches Klopfen.

Die Polizisten meinen dann,

dass sie sonst die gewaltsamte Tür öffnen müssen.

Und die Kosten dafür wird schon immer sparen.

Und ich habe dann so ganz vorsichtige Tür aufgemacht.

Die Beamten habe ich ja gefragt bei der Verhaftung,

ob ich das Geld zahlen kann.

Ich habe gesagt, nein.

Und da musste ich mich eben mitnehmen.

Ich habe das Geld bekommen von der Justiz

und hatte die auch geöffnet, aber dann immer wieder ignoriert.

Und was da per Post kam, das ist ein so genanter Strafbefehl.

Und ein Strafbefehl, das muss man sich so vorstellen,

wie eine Verurteilung per Brief.

Okay, das geht raus.

Das heißt, man kriegt dann ein Brief, wo drin steht,

sie wurden verurteilt, ohne dass man bei Gericht vorher war.

Und so war das dann auch bei Patrick, der dann Post bekommen.

Und da steht dann, sie müssen jetzt ins Gefängnis.

Das heißt, sie müssen auch Einspruch erheben oder so.

Ja, das kann man.

Das ist aber tatsächlich auch ein Kritikpunkt

bei diesem Strafbefehlensverfahren,

weil diese Einspruchsfrist, die beträgt gerade mal zwei Wochen.

Und es kann ja auch mal sein,

dass man zwei Wochen Brief nicht öffnet.

Ja, klar.

Und gerade bei den Menschen, die häufig von diesen kleineren,

sage ich mal Geldstrafen oder Delikten betroffen sind

oder die begehen,

ist es oft so, dass die häufig die Post von der Justiz

wieder gar nicht mehr aufmachen, aus Angst

oder Post vom Amt generell zur Seite legen,

die dann einfach gar nicht mitkriegen,

dass sie vielleicht verurteilt wurden.

Oder man hat die Wohnung gewechselt

und sich noch nicht umgemeldet oder so.

Also, das kann sehr schnell gehen,

dass das gar nicht denjenigen erreicht

und derjenige darüber informiert ist,

dass er verurteilt wird,

wenn er nicht in zwei Wochen widerspricht.

Ja, Wahnsinn.

Da muss man ja nicht mal unvernünftigerweise Briefe nicht aufmachen.

Das kann ja wirklich sein, wenn man in Urlaub ist.

Also, zwei Wochen, das ist wirklich knapp.

Ja, genau.

Und das ist auch so ein bisschen das, was Kritikerinnen sagen,

dass das eigentlich eine sehr kurze Frist ist,

dafür, dass dann eine rechtskräftige Verurteilung

am Ende steht.

Jetzt ist Patrick da nicht der Einzige, den das passiert ist.

Er hat in der JVA Plötzensee ja noch andere Leute getroffen.

Wen habt ihr da noch getroffen?

Ich habe mich schwarz gefahren, ja.

Ich hatte damals so eine Phase, da war mir so eigentlich alles egal.

Ich habe auf gar nichts geachtet.

Ja, wir haben auch noch Mike getroffen.

Und Mike ist so ein Fall,

der ist da ins Gefängnis gekommen,

auch ohne überhaupt vor Gericht gewesen zu sein.

Also, Mike ist verurteilt worden

für 16-mal Bus- und Bahnfahren,

ohne Ticket und für Betrug

und hat aber nie ein Richter oder eine Richterin gesehen vorher.

Und da ich eine Zeit lang nach Brandenburg gezogen bin,

durch die Arbeit, ist der Brief halt an die alte Adresse gekommen

und kam halt nicht zu mir.

Und irgendwann habe ich halt nur erfahren,

durch einen Zufall, das ist ein Stellungsbefehl für die Haft.

Da ist es und es verdacht sich so scheiße,

weil da läuft es bei mir alles gerade ganz gut.

Auch mit Freunden und so alles.

Arbeit alles wunderbar und so.

Und dann wird man wieder zurückgeschmissen in die Vergangenheit quasi

und muss das absetzen.

Diese Idee, dass man in Deutschland verurteilt werden kann,

zu Gefängnis, ohne das zu merken, das finde ich irgendwie,

irgendwie ficht es gruselig, dass es überhaupt geht.

Ja, das haben wir uns auch während der Recherche immer wieder gedacht,

ich und meine beiden Kollegen, mit denen ich das zusammen gemacht habe,

wie finden wir das eigentlich als Gesellschaft,

dass du einen Brief kriegst

und nach zwei Wochen giltst du als verurteilt.

Das weiß man ja auch so,

als Mensch, der nie in Berührung mit der Justiz kommt,

oder so auch erst mal gar nicht.

Und das hat uns auch nochmal deutlich gemacht,

dass die Justiz ein sehr eigenes System ist

und aber auch oft an ihre Grenzen kommt.

Und bei Mike, also der Betrug ist die eine Sache,

aber 16 Mal fahren ohne Fahrschein,

das ist jetzt, ich sag mal so,

nicht das, wofür man sich vorstellt,

wozu Leute ins Gefängnis gehen.

Oder andersrum gesagt, wenn ich mir so ein Gefängnis vorstelle

und man denkt, ja, das ist ein probates Mittel in unserer Gesellschaft,

dass da Menschen drinsitzen als gerechte Strafe

für das, was sie wirklich falsch gemacht haben,

für was Schlimmes,

denke ich jetzt nicht als erstes ans Fahren ohne Ticket.

Ja, tatsächlich ist es aber so,

dass das ein recht häufiger Grund ist,

warum Menschen im Gefängnis sitzen.

Ich erinnere mich an eine Zahl,

die betrifft jetzt die JVA Plötzensee,

dass dort wohl jeder Dritte wegen Fahrens ohne Fahrschein sitzt.

Was sagen denn die Gefängnisleitungen dazu?

Das Problem ist eben bei den absoluten Bagatelldelikten,

wie zum Beispiel das sogenannte Schwarzfahren,

dass hier mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird.

Wir haben damit Uwe Mayer-Oderwald gesprochen

und ich würde sagen, der ist ein Mensch,

der sehr offenspricht über das, was schiefläuft im Justizvollzug.

Einerseits, weil er das System schon lange von innen kennt,

also er arbeitet seit 20 Jahren im Vollzug

und die JVA Plötzensee,

die ist jetzt schon seine vierte Anstalt

und seit 2016 ist er dort Anstaltsleiter eben.

Und was mir auch aufgefallen ist,

dass er so durch eine sehr menschliche Brille

auf die Probleme und auf die Gefangenen dort blickt.

Diese Leute gehören hier nicht her,

sie müssen außerhalb der Mauern an die Hand genommen werden,

um ihr Leben zu ordnen,

überhaupt finanziell, gesundheitlich.

Sie müssen oft eine Suchttherapie machen.

Sie müssen ihr Vermögen ordnen.

All das kann eine JVA nicht leisten.

Also seine Hauptaussage ist eigentlich so ein bisschen,

man hat noch niemals soziale Probleme

und um die geht es eben häufig

mit strafrechtlichen Lösungen begegnen können.

Das hat noch nie funktioniert

und das wird auch nie funktionieren.

Und sein Argument ist auch so ein bisschen,

dass die Menschen, die dort sind,

eigentlich nicht dort hergehören,

weil den Menschen die Haft am Ende nicht weiter hilft.

Die Menschen, die wir haben, brauchen keine JVA.

Eine JVA ist ein großer, teurer Betrieb.

Diese Menschen sind nicht gefährlich.

Sie sind zu einer Geldstrafe verurteilt worden

und nur weil sie diese nicht bezahlen können,

sind sie überhaupt in Haft

und investieren hier teure personelle

oder finanzielle Ressourcen.

Warum geht das dann überhaupt auf einmal so schnell,

dass Leute in Deutschland wegen einer Geldstrafe

dann im Gefängnis landen?

Entweder geht es wie gesagt über das Strafbefehlensverfahren,

was auch ein Massenverfahren ist sozusagen.

Uns haben auch Expertinnen während der Recherche immer wieder gesagt,

ohne dieses Strafbefehlensverfahren,

also ohne diese Art schnell kleine, größere Vergehen

in Geldstrafen abzuurteilen,

würde das Justizsystem zusammenbrechen,

quasi unter der Last der ganzen Verfahren.

Und wenn man das Ganze im Brennglas betrachten will,

diese Überlastung der Justiz,

dann waren wir da an einem Ort,

das nennt sich das Bereitschaftsgericht in Berlin-Tiergarten.

Das ist ein Ort, wo man nochmal sehen kann,

was es heißt, wenn die Justiz überlastet ist

und einfach sehr viele Fälle in sehr kurzer Zeit

zu erledigen versucht.

Da gibt es 15 Minuten für einen Fall.

Das heißt, da werden Leute wirklich,

ja wie am Fließband quasi, durchgeschleust.

Was ist denn eigentlich ein Bereitschaftsgericht?

Das hat mir erst mal gar nichts gesagt.

Das ist eine Besonderheit.

Das heißt eben genau,

dass so einfach gelagerte Fälle,

nennt sich das, im Schnellverfahren abgehandelt werden.

Und da habt ihr auch wen getroffen, der genau das macht.

Und Menschen verurteilen, muss man sagen.

In dem Fall waren das meine beiden Kollegen,

die dort Anja Grund getroffen haben.

Die ist seit 30 Jahren Richterin.

Und hier bin ich jetzt seit 15 Jahren im beschleunigten Verfahren,

hier in dem Gebäude auch.

Ja, es ist hier ein Massengeschäft, muss man sagen.

Das sind ja sehr, sehr viele Verhandlungen, die wir täglich haben.

Und bei Anja Grund ist es halt so,

sie hat halt nur 15 Minuten mit den Menschen,

die da vor ihnen stehen

und hat auch oft das Gefühl,

die Menschen dort nicht wirklich gerecht werden zu können.

Also sie haderte auch selbst so ein bisschen mit,

weil die einzige Möglichkeit, die sie hat,

ist entweder Freiheitsstrafe oder Geldstrafe.

Und wenn es schlecht läuft,

dann führt eben diese Geldstrafe auch in eine Freiheitsstrafe.

Weil wo sollen die Leute das Geld hernehmen?

Also wir haben sehr viel Rentner auch, muss ich sagen.

Teilweise sehr traurig sind oft auch Frauen,

die allein auf einmal dastehen

und das ganze Leben lang wirklich keine Straftat begangen haben.

Und dann so seit zwei Jahren, seit sie Witwe geworden sind,

Straftaten mögen hier.

Wir haben Rentner, die sagen, ja, ich wollte einmal zu Weihnachten

mir die Teebus leisten können.

Und da fällt es mir dann doch schwer, muss ich sagen, das zu bestrafen.

Die Leute haben schon kein Geld

und dann sollen so nach hohe Geldstrafen abzahlen.

Und das sind oftmals Geldstrafen im Tausenderbereich dann

für Taten, die letztendlichen Schaden von 10 Euro angerichtet haben.

Und so ist das immer wieder ein Teufelskreis quasi.

Kann man sich da nicht eigentlich noch verteidigen?

Ich dachte irgendwie, in Deutschland gibt es ein Recht darauf,

dass man sich verteidigen lassen kann.

Ja, das denken sehr viele Leute.

Tatsächlich stehen aber viele Menschen unverteidigt,

gerade vor Amtsgerichten.

Das liegt daran, dass man in Deutschland nur in sehr bestimmten Fällen

das Recht auf Lichtverteidigung hat.

Also meistens eh nur dann,

wenn quasi eine Haftstrafe im Raum steht von über einem Jahr

und dann noch in einigen Sonderfällen,

wenn man zum Beispiel die Deutschsprache nicht richtig versteht

oder wenn man eine hörbare Hinderung hat,

dann trifft das zu, dass man ein Pflichtverteidiger

oder eine Pflichtverteidigerin zugesprochen bekommen kann.

Das entscheidet aber allein der Richter oder die Richterin,

die dann auch das Verfahren führen.

Also eigentlich denkt man ja, Pflichtverteidiger, der ist Pflicht,

den kriegen alle, ist aber offenbar nicht so.

Also man kann sich einen Anwalt nehmen, wenn man den bezahlen kann,

aber man bekommt nicht immer eingestellt.

Das Ding ist halt also wirklich gute Verteidigung,

muss man sich leisten können.

Und die, die sich eine gute Verteidigung leisten können,

maximieren ihre Chancen auf einen besseren Ausgang vor Gericht.

Wir kennen alle diese Beispiele aus dem Fernsehen,

Wirtschaftskriminalität, Steuerhinterziehung.

Ackermann wird als Vorstandschef der Deutschen Bank im Amt bleiben.

Er hatte immer deutlich gemacht in Finanzkreisen,

wenn er verurteilt wird, dann wird er hinschmeißen.

Aber nun ist das eben eine Geldbuße und keine Verurteilung.

Dennoch ist der Richterspruch wohl ziemlich im Sinne von Peter Harz.

Rechtskräftig verurteilt zwar wegen Untreue

und Begünstigung des Betriebsrates.

Doch Knast für Herrn Dr. Harz wird es nicht geben.

Da können sich Menschen mit viel Geld

zwei, drei Topanwälter aus der ersten Liga leisten,

um sich verteidigen zu können.

Man kann das mit einem Achselzucken hinnehmen und sagen,

ja gut, wer mehr Geld hat, kann sich halt mehr leisten.

Das ist so im Gesundheitssystem, das ist so im Justizsystem.

So what?

Aber am Ende ist ja schon so ein bisschen das Versprechen im Rechtsstaat.

Alle sind gleich vor dem Gesetz

und alle sollten sich auch in ihr Maße gut verteidigen können.

Und da ist so ein bisschen eine Schieflage, glaube ich.

Also wenn man sich anguckt, wer überhaupt in Ersatzfreiheitsstrafe kommt,

dann sind das oft Menschen mit sehr, sehr wenig Geld.

Also wenn man von den ursprünglich verhängenden Geldstrafen zurückrechnet,

dann verfügten 60 Prozent zum Beispiel

nur über ein Nettoeinkommen von unter 500 Euro im Monat.

Wenn man daraus jetzt die Tagesratzhöhe berechnet,

dann sind das so 10, 15 Euro ungefähr.

Und wenn man sich jetzt dagegen aber anschaut, wie viel so ein Hafttag kostet,

dann sind das durchschnittlich 174 Euro.

Und wenn man das jetzt in die Waagschale legen würde, okay,

da sitzen Menschen für 10 oder 15 Euro Strafe am Tag in Haft,

verursachend dadurch aber Kosten von rund 170 Euro,

dann kann man sich auch schon fragen, wie verhältnismäßig das oft ist.

Also das heißt, die Haft kostet in dem Fall mehr,

als die Strafe eigentlich gekostet hätte?

Genau, als die Strafe kostet und eben auch zum Beispiel beim Thema Fahren ohne Ticket,

sind das ja auch ursprüngliche Schadenswerte von meist nur wenigen Euros.

Das sagt auch wiederum der Anstaltsleiter Uwe Maier-Odewald,

der sagt halt, dass das absurd ist und dass man mit denselben Geld

den Menschen draußen eigentlich viel besser helfen könnte.

Mit Suchtherapien, mit Sozialarbeit zum Beispiel.

Ja, es ist absurd und es ist ja aber auch einfach unrentabel.

Also selbst wenn einem die Menschen total egal wären,

muss man ja einfach sagen, für den Staat lohnt sich das ja überhaupt nicht.

Das ist ja eine Minusrechnung.

Ja, es kostet einfach eine Menge Geld.

Also 2019 war es zum Beispiel so, dass die Bundesländer pro Tag 545.000 Euro

nur für die Ersatzfreiheitsstrafe ausgegeben haben.

Das Jahr gerechnet sind das 200 Millionen.

Habt ihr damals wen konfrontiert von der Bundesregierung?

Was sagen die dazu, zu dieser Rechnung, die ja irgendwie nicht aufgeht?

Wir haben es lange versucht und dann auch tatsächlich ein Interview bekommen

mit Marco Buschmann, dem Bundesjustizminister.

Und wir haben ihn auch gefragt, wie sinnvoll ist denn das,

die Ersatzfreiheitsstrafe als System?

Jedes Mal, wenn wir in die Ersatzfreiheitsstrafe gehen,

ist das eigentlich etwas, was wir eigentlich vermeiden wollen.

Nur eins muss klar sein.

Wer Strafgesetze verletzt, wer sich strafbar macht,

der muss natürlich auch eine Sanktion verbüßen.

Klar, das ist ja irgendwie auch logisch.

Das versteht ja jeder diese Logik dahinter.

Aber habt ihr mal mit dem konfrontiert,

was der Anstahlsleiter euch da gesagt hat in der JVA?

Herr Dr. Maiorwald sagt ja, ein JVA für diese Menschen

wird, das sage er mit Bedacht, als Obdachlosenheim missbraucht.

Das ist ja schon eine sehr krasse Aussage.

Was sagen Sie denn dazu?

Also diese Überlastungssituation, die er beschreibt,

versuchen wir ja zu entschärfen.

Belastungssituation bedeutet ja auch, dass er den Eindruck hat,

dass er sich nicht um die Leute genug kümmern kann.

Und deshalb wollen wir ja durch die Halbierung des Umrechnungsmaßstabs

dafür sorgen, dass erst mal die Belastung in den JVAs geringer wird.

Die Reform, kurz als Erklärung.

Bisher wird halt ein Tagessatz Geldstrafe in einen Tag Haft umgerechnet.

Und es gibt jetzt einen neuen Gesetzesentwurf,

das Sanktionrecht soll reformiert werden.

Und dann sollen eben zwei Tagessätze Geldstrafe

in einen Tag Haft umgerechnet werden,

sodass die Haftzeiten sich halbieren würden.

Okay, also wenn ich jetzt bisher zu 50 Tagessätzen verurteilt würde

und ich kann das nicht zahlen, müsste ich 50 Tage in den Knast.

Und Marco Buschmann schlägt jetzt vor,

dass wenn ich zu 50 Tagessätzen verurteilt werde,

die aber nicht bezahlen kann, 25 Tage absetzen müsste ersatzweise.

Genau.

Okay.

Gut, dies ist ein Vorschlag, quasi 50 Prozent Rabatt.

Wird er diskutiert?

Gibt es eine Reaktion?

Zum Beispiel haben wir mit Nicole Bögelein gesprochen.

Sie ist Kriminalogen an der Universität zu Köln

und forscht und publiziert seit vielen Jahren zu der Satzfreiheitstrafe.

Und die sagt eben, dieser Reformvorschlag,

so wie er gerade auf dem Tisch liegt.

Das würde bedeuten, dass kein Fall,

kein Mensch weniger in der Satzfreiheitstrafe kommt.

Also die Antritte wären genauso viel.

Justizvollzugsanstalten hätten genauso viele Menschen

in der Satzfreiheitstrafen einzusortieren, sozusagen.

Es wäre eben nur der Punkt, dass der Mensch kürzer in Haft wäre.

Und Frau Bögelein ja argumentiert eben auch,

wenn man sich anguckt, wer in der Satzfreiheitstrafe landet,

sind das häufig Menschen, die ohnehin schon Probleme haben.

Und viele Menschen, die einmal in der Satzfreiheitstrafe landen,

kommen auch immer wieder in der Satzfreiheitstrafe.

Also es gibt quasi so was wie ein Drehtoeffekt,

sagt auch der Ansteigleiter.

Okay, ist das so?

Der Ansteigleiter sagt das auch.

Wie habt ihr das vor Ort erlebt?

Also waren die, die da getroffen haben,

waren die da zum ersten Mal da oder schon mehrfach?

Mike S. war zum ersten Mal da,

und Patrick war tatsächlich schon mal in der Satzfreiheitstrafe

und auch schon mal an der dort verabschiedeten See.

2021 war das.

Also da sieht man, dass tatsächlich die Menschen wiederkommen.

Straf ist schon sinnvoll,

weil man dann erst anfängt, auch drüber nachzudenken.

Aber ob es direkt gleich Haft sein muss,

darüber kann man sich ja noch streiten.

Jetzt haben wir eine ganze Menge gelernt

und es ist irgendwie verzweckt.

Und ich frage mich, ist das eigentlich normal,

dass wir hier machen in Deutschland,

also machen das andere Länder auch so,

zum Beispiel in anderen europäischen Ländern?

Also es gibt Länder, die machen es tatsächlich anders.

Zum Beispiel beim Thema Pflichtverteidigung.

Wenn man sich da Italien anschaut,

da gibt es tatsächlich für jeden Menschen,

der einen braucht, auch einen Pflichtverteidiger zur Seite gestellt.

Wenn man sich jetzt die Ersatzfreiheitsstrafe anguckt,

da können wir nach Schweden schauen.

Da gibt es ein anderes Modell der Ersatzfreiheitsstrafe.

Dort muss nämlich nicht jeder ins Gefängnis,

der seine Geldstrafe nicht zahlen kann,

sondern nur derjenige, der seine Geldstrafe nicht zahlen will.

Das ist ja auch ein großer Unterschied.

Aber was machen die denn eigentlich mit den Leuten dann,

die nicht zahlen können?

Diese Vollstreckung der verhängten Geldstrafen,

die übernimmt in Schweden nicht die Staatsanwaltschaft,

sondern das sogenannte Amt für Beitreibung.

Und dieses Amt prüft alle zwei Jahre,

ob der oder die Verurteile inzwischen zahlen kann.

Also hat man so Schulden?

Die Geldstrafe, die steht ja noch aus.

Und dann wird einfach alle zwei Jahre geprüft,

ob man mittlerweile das Geld hätte, um die Strafe zu zahlen.

Wenn man es beim ersten Mal,

als die Strafe verhängt wurde, noch nicht zahlen konnte.

Und wenn das aber nicht der Fall ist,

das heißt, wenn du nach zwei oder vier Jahren immer noch kein Geld hast,

um die Strafe zu bezahlen, dann verjährt die Strafe nach fünf Jahren.

Ja, finde ich auch ganz gut.

Auf der anderen Seite könnte ich auch wieder verstehen,

dass da Leute daran Kritik üben.

Gibt es nicht auch Modelle,

wo man die Strafe irgendwie ableisten kann?

Genau, das gibt es auch.

Das gibt es auch jetzt schon in Deutschland.

Das nennt sich dann Arbeit statt Strafe.

Zum Beispiel in Bremen gibt es ein Verein,

das ist der Verein Hoppenbank,

und die haben ein Werkraum.

Da können Menschen ihre Strafe abarbeiten,

indem sie Dinge bauen.

Zum Beispiel Insektenhotels,

die dann an Schulen oder Altenheime gehen.

Also es gibt so Modelle,

da kann man seine Strafe halt dann Tag für Tag abarbeiten.

Man muss aber sehen,

dass diese Angebote nicht immer für jeden was sind,

weil wir haben schon irgendwie gelernt,

die Menschen, wenn sie Suchterkrankungen haben

oder Alkoholkrankungen sind,

können sie vielleicht manchmal auch gar nicht sich darum kümmern

und diese Arbeit dann ableisten.

Und es gibt eben oft auch nicht genug Angebote,

oder Menschen erfahren gar nicht erst davon,

dass es diese Möglichkeit gibt,

die wird ihnen gar nicht erst angeboten.

Also ich habe mitgenommen,

dass eine Lösung dieses Problems sehr schwer ist.

Aber ich glaube, man muss sich überlegen,

wie könnte man diesen Menschen anders helfen,

damit sie eben diese Straftaten nicht mehr begehen

und auch aus diesen Lebenssituationen,

in denen sie oft festhing rauskommen.

Das ist aber, glaube ich,

eine größere gesamtgesellschaftliche Frage.

Und natürlich auch eine Frage des politischen Willens,

sich dieser Frage offen und unvoreingenommen zu stellen.

Und was gerade passiert,

ist, dass diese Menschen eher hin und her geschoben werden

und in letzter Instanz dann im Justizvollzug landen,

auch weil die Gesellschaft irgendwie nicht weiß,

wohin mit ihnen.

Danke, Isabel.

Gerne.

Das war unsere Episode hier bei 11km der Tagesschau-Podcast.

NDR-Reporterin Isabel Schneider

hat das Thema in aller Tiefe recherchiert.

Die ganze Doku von Isabel Alex Krantel

und Claes Wilhelm Brandenburg

findet ihr in der AID-Mediathek.

Sie heißt Arm und Reich vor Gericht.

Wie gerecht ist unsere Strafjustiz?

Den Link gibt's in den Shownauts.

Autor dieser Folge ist Sandro Schröder.

Mitgearbeitet hat Mira Sophie Potten.

Produktion Jonas Lasse Teichmann, Alex Berge,

Hannah Brünjes und Eva Erhardt.

Redaktionsleitung Lena Göttler und Fumiko Lipp.

11km ist eine Produktion von BR24 und NDR Info.

Mein Name ist Victoria Michalsack.

Wir hören uns morgen wieder.

Ciao.

Einen Podcast-Tipp habe ich noch zum Schluss für euch.

Wenn ihr euch für Verbrechen interessiert,

vielleicht ja auch für den Podcast Tatortgeschichte.

Mit den beiden Historikern Niklas Fischer und Hannes Liebrandt.

Da geht's um historische Verbrechen.

Ihr wollt noch mehr Spannung erleben?

Dann nehmen wir euch gerne mit auf eine Zeitreise.

Wir sind Niklas Fischer und Hannes Liebrandt.

Beide Historiker an der Ludwig Maximilians-Universität in München

und in unserem Podcast Tatortgeschichte

blicken wir zurück auf bekannte und unbekannte Verbrechen

aus der Vergangenheit.

Bei uns könnt ihr miterleben,

wie der junge Josef Stalin als Bankräuber Karriere macht

oder wie Erich Mielke vom Polizistenmörder zum Architekten

der Stasi geworden ist.

Vieles von dem, was damals passiert ist,

beschäftigt uns bis heute.

Wenn ihr also hören wollt, wie True Crime auf History trifft,

dann seid ihr bei uns genau richtig.

Tatortgeschichte findet ihr auch in der ARD-Audiothek.

Copyright WDR 2021

Machine-generated transcript that may contain inaccuracies.

Im Gefängnis wegen Schwarzfahrens oder einer geklauten Teewurst – und das, ohne bis dahin ein Gericht oder einen Anwalt gesehen zu haben. Die Verurteilung kommt per Post und landet meist bei von Armut betroffenen Menschen in Deutschland im Briefkasten. Denn können sie Geldstrafen nicht bezahlen, bezahlen sie mit ihrer Freiheit. Wie sinnvoll ist diese Ersatzfreiheitsstrafe? Und was sagt das über den Grundsatz, dass vor Gericht alle gleich sind? In dieser 11KM-Folge werfen wir mit NDR-Reporterin Isabel Schneider einen tiefen Blick in unser Justizsystem. Wir lernen Menschen kennen, die so im Gefängnis landeten, eine Richterin und einen JVA-Leiter, die am System zweifeln, das Menschen für Geldstrafen ins Gefängnis bringt.



Die ARD-Story “Arm und Reich vor Gericht: Wie gerecht ist unsere Strafjustiz” von Isabel Schneider, Alex Grantl und Klaas-Wilhelm Brandenburg: https://www.ardmediathek.de/video/dokus-im-ersten/ard-story-arm-und-reich-vor-gericht/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3JlcG9ydGFnZSBfIGRva3VtZW50YXRpb24gaW0gZXJzdGVuLzIwMjMtMDYtMDZfMjItNTAtTUVTWg



An dieser Folge waren beteiligt:

Folgenautor: Sandro Schroeder

Redaktionelle Mitarbeit: Mira-Sophie Potten

Produktion: Jonas-Lasse Teichmann, Alex Berge, Hanna Brünjes, Eva Erhard

Redaktionsleitung: Fumiko Lipp und Lena Gürtler



11KM: der tagesschau-Podcast wird produziert von BR24 und NDR Info. Die redaktionelle Verantwortung für diese Episode trägt der BR.



Hier kommt ihr zu allen Folgen unseres Podcast-Tipps “Tatort Geschichte”:

https://1.ard.de/11km-tatortgeschichte