11KM: der tagesschau-Podcast: Verschleppt nach Russland – wie ukrainische Eltern ihre Kinder zurückholen

tagesschau tagesschau 5/9/23 - Episode Page - 30m - PDF Transcript

Es ist Krieg. Du gibst dein Kind für zwei Wochen ab, raus aus der Ukraine, raus aus dem besetzten

Gebiet. In ein angeblich sicheres Camp. Und dann kommt dein Kind nicht wieder zurück.

Das ist Natalia, einer Mutter aus der Südokraine, aus der Nähe von Kherson passiert. Ihr Kind

ihr Sohn Igor wurde festgehalten in Russland. Gegen seinen Willen und den Willen der Eltern.

Ein mutmaßliches Kriegsverbrechen.

Tobias Dammas war schon mehrfach für die ARD in der Ukraine. Tobias hat den Sohn Igor und seine

Mutter Natalia besucht und hat bei der Recherche festgestellt, die Geschichte von ukrainischen Kindern,

die in Russland landen, die hat mehr Facetten und Grautöne als ursprünglich gedacht.

Ihr hört 11km der Tagesschau Podcast. Ein Thema in aller Tiefe. Abonniert uns in der ARD-Audiothek

und überall sonst, wo ihr Podcast hört. Mein Name ist Victoria Michalsack und heute ist Dienstag

der 9. Mai. Hallo Tobias, herzlich willkommen. Hi.

Igor ist ein junger aus der Ukraine, er ist 16 Jahre alt und als ich ihn getroffen habe, da kam er mir

relativ schüchtern vor, ein recht blasser, schüchterner junger Mann, der jetzt gerade seine Schule

fertig gemacht hat und überlegt, vielleicht Automechaniker zu werden, noch ein bisschen

Fragezeichen im Kopf hat, was in Zukunft kommt und er tun ziemlich gerne. Das hat er mir auch

gezeigt und er kann echt krasse Sachen am Rek. Also mehr als vier Monate war er in Russland und er hat mir

gesagt, es sei toll zurück zu sein. Ich hatte es satt dort zu sein. In die Ukraine zurückzukehren

ist ein großer Schritt, weil viele gar nicht mehr zurückkommen. Ich habe ihn Mitte März getroffen

und da war er gerade zwei Wochen wieder zurück in der Ukraine und deswegen glaube ich habe ihn in

einer sehr sensiblen Phase getroffen, in einer Phase, wo er vielleicht auch noch gar nicht richtig

abschätzen konnte, was damit ihm passiert ist. Er hat schon bereitwillig über seine Erfahrungen dort

in Russland gesprochen, dass aber glaube ich noch nicht alles reflektieren können. Hat sich auch

nicht so viel anmerken lassen wollen, glaube ich auch, aber trotzdem merkt er mal, dass das

irgendwas mit ihm gemacht hat. Igor ist also als Jugendlicher aus der Ukraine in Russland

gewesen eine ganze Weile. Genau. Wie ist er denn da hingekommen? Wie fängt das an? Das fängt an

eigentlich mit seinem Geburtsort. Er stammt aus dem Süden der Ukraine, aus dem Dorf Antunivka. Das

liegt in der Nähe der Region Kherson und das ist eine Gegend, die zu Kriegsbeginn im vergangenen

Jahr sehr schnell von den Russen erobert worden ist und dann hat sein Dorf, ja und auch mit seiner

Mutter und seinem Bruder zusammen monatelang unter russischer Besatzung gelebt. Das ist irgendwann

für diese Familie, so haben sie es mir geschildert, Normalität geworden und irgendwann hat er dann

ein Angebot bekommen, dass er zusammen mit anderen Kindern und Jugendlichen in ein Feriencamp nach

Russland gehen könne. Ich stütze mich da auf die Schilderungen, die Igor und seine Mutter

gegeben haben und offenbar kam das auch über seine Schule, über seinen Schuldirektor, also irgendwie

schon strukturiert. Sie haben überlegt, ob sie es machen sollen oder nicht, aber für ihn war es

der erste Urlaub in seinem Leben überhaupt. Es war ein kostenloser Urlaub für ihn, es war ein Urlaub

weit weg von der Kampfzone, weit weg von der Gefahr. Also wann war das im letzten Jahr? Das war

im vergangenen Jahr, im Spätsommer hatte das Angebot bekommen und eigentlich sollte er nur

für vier Wochen dort bleiben, so weit das Angebot, so haben es auch schon andere Kinder aus der

Nachbarschaft gemacht und sind zurückgekommen. Also Urlaub, ein Feriencamp, vielleicht auch aus

einer Kriegszone raus, das klingt ja erst mal gut, aber ich muss sagen, mein erster Impuls war jetzt

sich zu fragen, es wirkt erst mal aus deutscher Perspektive, sage ich mal oder aus meiner Perspektive

erst ist komisch, dass man sein Kind von der Ukraine aus nach Russland schickt. Das ist erst

mal nicht, was man so erwarten würde. Mir ging es genauso wie dir, dass mir das nicht in den Kopf

reinging, wie Eltern ihre Kinder nach Russland schicken können in das Land, dass eben diese

furchtbaren Gräueltaten in der Ukraine verübt, das eigene Kind. Man muss sich aber glaube ich auch

in die Perspektive dieser Leute und auch der Eltern hineinversetzen, weil zu dem Zeitpunkt als

IKO das Angebot zum Beispiel bekommen hat, war diese russische Besatzung einfach schon monatelang

Realität. In dem Dorf war es zu dem Zeitpunkt offenbar dann auch schon wieder ruhig, es gab

zwar Besatzungen, aber keine Kampfhandlungen mehr und diese russische Besatzung hat eine andere

Denkweise auch in dieses Dorf implementiert, allein dadurch, dass nur russische Medien

konsumiert worden sind, dass dieser Krieg, die Kriegsverbrechen, Verbrechen an der Zivilbevölkerung,

all dieses grauen, also dieses Leid, weil den Leuten nicht angekommen ist. Sie wussten schlicht

nicht, was Russland als Aggressor in der Ukraine verübt. Dazu kommt, dass die Region Resson

auch schon vor dem Krieg größtenteil russischsprachig war, also es gibt da auch eine enge

Verbindung zur russischen Kultur, es liegt nicht so weit weg von der russisch besetzten Krim. Also

es ist nicht abwegig, dass die Eltern entscheiden, ich schicke mein Kind nach Russland, weil sie sich

diesen neuen Gegebenheiten angepasst haben. Die wollen ja Kind halt in Richtung Sicherheit

schicken. Und dann haben sie gesagt, gut, er macht es. Also Igor fährt in dieses Camp. Was heißt Camp,

was machen die da? Zum Anfang geschien es tatsächlich ein Camp gewesen zu sein mit Zelten, also

provisorischen Unterkünften, ein bisschen wie ein Lager. Am Ende sind sie aber auch gewechselt und

haben dann in so eine Art Hostel geschlafen, also in einem festen Haus, wo auch Betten drin standen.

Ich habe Fotos gesehen und es sah sauber aus, absolut in Ordnung, nicht gerade luxuriös, aber auch

nicht schlimm. Sie haben Angebote, Freizeit-Angebote, es gibt auch Schul-Angebote oder Bildungs-Angebote,

sie besuchen Museen, sie haben recht strikten Tages-Applaus, erzählt er mit Frühstück zu

einer bestimmten Zeit, Mittagessen, Sport, Abendessen. Er sagt auch, er ist dort gut behandelt worden,

es gab keine Gewalt, er sagt auch, es gab keine Indoktrinierung, keine Propaganda, kein Kontakt

zum Militär, aber was er schon sagt, dass unter den Campmitgliedern, da sind ältere

Beige gewesen, aber auch Jüngere immer mal wieder auch Überzeugungsversuche gemacht worden sind,

hey, es ist doch cool in Russland zu bleiben, es gibt Geld, wenn du bleibst, es gibt Peste, wenn du

bleibst. Die Leute im Camp haben gesagt, so eine Chance, so eine Chance bleib. Okay, also es ging

halt so ein bisschen darum, die zu überzeugen, da zu bleiben. Zumindest subtil, ja, den Eindruck

habe ich bekommen. Aber dann irgendwann sind die verabredeten 4 Wochen Ferienlager um. Was passiert dann?

Die 4 Wochen sind um und diese 4 Wochen fallen in einer politisch ziemlich aufregende Zeit,

gerade für Igor, weil in dieser Zeit kurz bevor er eigentlich wieder zurück soll in seiner Heimat,

erobert die ukrainische Armee, seine Heimatregion und auch sein Dorf wieder zurück und die

russischen Truppen haben diese Region fast fluchtartig verlassen. Das war im Herbst letzten Jahres,

ne? Genau im Herbst, das kann ziemlich überraschen und Igor saß damit in einer ziemlich krassen

Situation. Er war in Russland, aber gleichzeitig haben die Ukrainer die Front verschoben und sein

Dorf wieder eingenommen und für ihn hatte das eben die Konsequenz, dass seine Rückreise aber auch die

von anderen aus der Gegend immer wieder verschoben worden ist. Im Camp hat man ihm gesagt, nein,

jetzt doch nicht, nein, das ist zu gefährlich, nein, wir können euch jetzt nicht zurückbringen.

Also die Erzählung ist, wir bringen hier Kinder weg aus einer Kriegsregion, die sollen sich erholen,

die sollen da weg und dann sagt man, hey, da wird gerade gekämpft, verlassen dich nicht wieder zurück,

das klingt ja auch erst mal logisch, ne? Es klingt auf den ersten Blick oder beim ersten

Hinterhören klingt es logisch, aber Igor hat mehrmals gesagt, er will zurück, auch seine

Mutter hat gesagt, er möchte zurück, er soll zurückkommen und in seinem Dorf, ja, da wurde gekämpft,

als die Ukrainer erst mal zurückerobert haben, es gab da auch Probleme mit der Stromversorgung,

aber irgendwann auch nicht mehr. Also es hätte schon die Möglichkeit gegeben, die Kinder friedlich

zurückzubringen und selbst wenn es nicht in seinen Heimatdorf wäre, hätten sie auch in die Ukraine

zu ihrer Familie zurückgehen können und an anderen Orten leben können, sowie hunderttausend andere

Ukrainer auch. Okay, aber er wird dann einfach nicht mehr weggelassen? Er wird einfach nicht

mehr weggelassen, ja, also die russischen Behörden halten ihn fest. Wir hatten eine Begleiterin und

sie sagt, wir würden sehr wahrscheinlich zu einer anderen Organisation kommen, so was wie Pflegeheime,

Pflegefamilien oder so. Er sagt, dass immer wieder Aussagen gefallen werden, vielleicht werden wir

euch in andere Regionen verschicken. Das ist für mich auch ein Zeichen, dass da schon eine Struktur

hintersteckt, auch der Wille, diese Kinder noch tiefer in der russischen Gesellschaft zu verernkern,

sie noch tiefer in neue Familie hineinzugeben und auch die Identitäten zu verändern. Also ehrlich

gesagt, ich musste jetzt gerade mal ganz kurz durchatmen auch so ein bisschen bei dieser

Vorstellung, weil ich die so unglaublich gruselig finde, da als jugendlicher Mensch so weit weg

von der eigenen Familie zu sein. Ich glaube, dass es für ihn vor Ort schon eine Angst war. Er hat

auch versucht zu seiner Mutter Kontakt zu halten, der Kontakt ist zwischendurch abgebrochen. Ich

glaube, dass er Angst davor hatte, aus diesem Camp weggeschickt zu werden und irgendwo in Sibirien

oder in anderen Familien Russlands aufgenommen und zu verschwinden, vielleicht nicht mehr auffindbar

zu sein. Und seine Mutter, du hast gerade gesagt, die hatten zwischendurch mal keinen Kontakt. Wie

ging es ihr denn in der Zeit? Ich glaube, für die Mutter muss es der Horror gewesen sein. Wie lässt

ich das sagen? Ich war schockiert. Es war einfach ein Schock, dass ich mein Kind in die Ferien geschickt

habe, aber es war nicht klar, wie diese Ferien enden würden, dass ich ihn vielleicht nicht mehr

wiedersehen würde. Sie hat im Endeffekt ja auch ihr Einverständnis gegeben, sie hat die Zustimmung

gegeben, sie hat die Erlaubnis gegeben, dass er dort hingehen darf und er kommt nicht mehr zurück. Sie

haben Kontakt gehalten über Handy, also über soziale Medien, aber irgendwann ist der Kontakt abgebrochen,

und zwar weil seine Mutter zwischendurch keinen Strom hatte, ihr Handy nicht mehr aufladen konnte

und so konnten sie nicht mehr telefonieren oder Videotelefonieren. Diese Kinder, die werden da

festgehalten und du sagst auch für dich, macht das denn Eindruck, dass das ein System hat? Die russische

Version, warum man diese Kinder festhält, wegbringt, die klingt wahrscheinlich ganz anders, oder? Was ist

denn die russische Version? Die russische Version ist, dass diese Kinder evakuiert werden, weil es in

der Ukraine einfach besonders gefährlich ist, müssen diese Kinder gesichert und geschützt werden,

und sie sagen auch, dass viele dieser Kinder eben weisen sind, die niemanden haben, der sich um sie

kümmert in der Ukraine und suchen deswegen Adoptivfamilien oder Pflegefamilien in Russland, die die

Kinder großherzig aufnehmen. Also da wird nicht thematisiert, dass das der Krieg ist, den die

selbst angefangen haben und es wird dann anscheinend wieder dieses Bild gezeichnet, dass Russland

diese Kinder rettet. Genau das wird gezeigt, dass die Kinder gerettet werden im russischen Fernsehen,

läuft das auch rauf und runter. Es wird gefilmt, wie die Kinder aus Flugzeugen aussteigen, mit dem Zug

ankommen, auf großen Jahres fallen, auf den auch Putin auftritt, werden diese Kinder auf der Bühne

gezeigt, sie umarmen Soldaten, die sie angeblich gerettet haben und wie froh sie sind jetzt in

Russland zu sein. Aber das ist natürlich Teil der russischen Propaganda, weil Russland ist der

Staat, der die Ukraine überfallen hat. Russland ist das Land, das diesen Krieg begonnen wird.

Ja man hätte ja auch denken können, das wird geheim gehalten, aber das ist nicht so, es wird

ganz offen gezeigt und dann sogar richtig zelebriert. Ja genau und auch von prominenter Stelle, es gibt

da eine Kinderrechtsbeauftragte, die russische offizielle Kinderrechtsbeauftragte, sie heißt

Maria Lova Bellova und sie ist ein bisschen das Gesicht für dieses mutmaßliche Kriegsverbrechen

geworden. Sie ist verantwortlich für diese Verschleppung und Deportation von Kindern, das

sagt sie sogar selber, sie sagt es in ladosischen Ankamen und ihren Angaben über 380 Kinder in

zwischen in Russland in Adaptivfamilien gegeben worden sind. Ja und dann passiert was? Mitten in

Eurer Recherche, im Februar 2023 ist das mehr als ein Jahr nach Beginn des Angriffskrieges gegen

die Ukraine, hat der internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten

Putin erlassen. Neben ihm gab es auch Haftbefehl gegen die Kinderrechtskommissaren seiner

Präsidialverwaltung Maria Lova Bellova. Putin sei mutmaßlich verantwortlich für die Verschleppung

und Umsiedlung ukrainischer Kinder, so das Gericht in den Hach. Das war tatsächlich eine

Nachricht, die eingeschlagen ist, ein Haftbefehl gegen zwei Personen erstens gegen Putin, aber eben auch

gegen diese Kinderrechtsbeauftragte, die ich eben angesprochen habe, Lova Bellova und zwar genau

wegen dieser Deportation und des Transfers von Kindern, also wegen dieser Verschleppung. Und das

ist, wenn man sich das Völkerrecht international anguckt, ein Kriegsverbrechen und deswegen wird

jetzt auch gegen die beiden ermittelt und ein Haftbefehl wurde ausgestellt wegen der mutmaßlichen

Verantwortung in Kriegsverbrechen. Ja, es ist schon interessant also, dass die angesichts von Bomben

angriffen und berichten über Massaker, dass die Kindsverschleppung so präsent ist in diesem

Haftbefehl, weil das ein Kriegsverbrechen ist. Genau, es gibt auch andere Kriegsverbrechen,

wie beispielsweise die Ermordung von Zivilisten. Dazu wird auch ermittelt. Kurzer Hinweis,

Kriegsverbrechen nachzuweisen, das ist alles andere als einfach. Schon während des laufenden Kriegs

sammeln Menschen dafür Beweise, teilweise mit aufwendigen Videoanalysen oder Zeugenbefragungen.

Darüber gibt's auch eine FKM-Folge. Kriegsverbrechen, Beweise sammeln gegen Protein. Verlinken wir euch in

den Shownotes. Und damit geht's jetzt auch weiter. Es war schon interessant, dass sich ausgerechnet

dieser Komplex ausgeschaut wurde und als Grundlage für die Anklage oder für den Haftbefehl viel mehr

genommen worden ist. Und so haben wir das Staatsanwälte erklärt. Das ist offenbar so, weil es dafür

eine sehr gute, sehr gründliche Beweisschlage gibt. Sonst hätte der Internationale Strafgerichtshof das

vermutlich auch gar nicht so öffentlich und so forsch in die Welt getragen. Russland übrigens hat

sich auch schon dazu geäußert, sie erkennen den Strafgerichtshof nicht an und sie sagen auch,

dieser Haftbefehl, das sei unverschämt, das sei dumm, das sei rechtlich, nichtig und wiederholen

ihm, dass diese Deportation der Kinder eine Evakuierung sei. So weit also diese russische

Inszenierung, die bekommt ja auch ihr Großmutter mit, aber dann merkt sie eben, dass ihr Kindopfer

dieses mutmaßlichen Kriegsverbrechens geworden sein könnte und sie merkt das dann und versucht,

ihr Kind natürlich zurückzuholen. Wie macht sie das? Natalia beginnt sich mit anderen Müttern

auszutauschen, die ein ähnliches Schicksal haben, die in ähnlichen Situationen sind. Sie erzählt mir,

dass sie auch versucht, ukrainische Behörden anzurufen, sie auf Polizisten an, sie ruft

Ombudstellen an, an die man sich wenden kann, aber so richtig klappt es nicht und dann stößt sie online

auf eine Hilfsorganisation, die erklärt, wie sie Igor zurückholen kann. Das ist ein Weg gibt,

das ist SOS Kinderdorf Ukraine und die NGO. Und die NGO, die sagt ja auch, wie sie das Kind abholen

kann und zwar muss sie persönlich in Russland erscheinen und dort beweisen, dass Igor ihr

leiblicher Sohn ist. Das ist gar keine so leichte Auge, aber weil man dafür eben diese Dokumente

braucht, Pässe braucht, Geburtsurkunden braucht und darum kümmert sich die NGO und organisiert

eben auch diese tausende Kilometer lange Reise für sie. Also wenn man auf die Karte schaut,

dann sieht man, dass Dorf Antonivka und Anapa, die Stadt, wo sich das Kempel findet, gar nicht

so weit voneinander entfernt sind. Ohne Krieg wäre das wahrscheinlich so eine zehnständige Autofahrt,

aber dieser Weg ist eben versperrt, weil Krieg ist und weil da die Fronten sind und sie fährt

erst nach Warschau, also in die ganz andere Richtung nach Polen, von dort über Belarus an die russische

Grenze überquert. Dort die russische Grenze fährt von dort nochmals einen riesigen Umweg nach Moskau,

also noch mal in den Norden und von Moskau dann einen sehr, sehr weiten Weg nach Südrussland,

nach Anapa, wo sich das Kempel findet, dem auch Igor ist. Also eine riesen Umweg, wie lange ist

sie da unterwegs? Sie ist zwei Wochen unterwegs und das sind Tausende von Kilometern. Ich fand

interessant, dass die NGO offenbar in der Lage war, den Transport zu organisieren, denn Natalia

trifft dort Helfer oder Mitarbeiter, zumindest Sympathisanten dieser NGO, die sie durch Belarus

transportieren. Belarus ist ja verbündet mit Russland, die helfen die russische Grenze zu

überqueren, die Tickets für den Zug organisieren. Also es muss innerhalb von Belarus und Russland

Menschen geben, die dabei helfen, ukrainische Kinder zurückzubringen. Es ist allerdings auch

ein Punkt über die die NGO und Natalia auch nicht gerne sprechen, sie löschen die Fotos,

sie löschen die Chats mit diesen Mitarbeitern, vielleicht um die nicht zu gefährden und ich

glaube es ist auch eine Sache, die in Russland höchst gefährlich ist, dabei zu helfen,

dieses System der Kinderverschleppung zu untergehen und ukrainischen Müttern zu helfen,

ihre verschleppten Kinder wieder zurückzubringen. Ja und das ist ja auch eine der Gefahren,

der sie sich dann stellt. Also zum ersten Mal ehrlich gesagt habe ich darüber nachgedacht,

wie man eigentlich von der Ukraine als Ukrainerin nach Russland einreisen kann, dann kommt sie

daher an mit ihrem Pass, mit ihrem echten Namen. Was hat sie denn gesagt bei der Grenzkontrolle,

wo sie hin will? Bei ihr war die Grenzkontrolle offenbar relativ leicht, aber andere Mütter haben

mir geschildert, dass es ziemlich heftige Befragungen gegeben hat, dass auch die Handys von ihnen

durchscrollt wurden, dass alle Chats gelesen worden sind, ihre Kontaktbücher alle geprüft

worden sind und dann wurde den Müttern offenbar auch vorher von Helfern gesagt, man solle

niemals sagen, dass die Kinder abgeholt werden, sondern dass die Kinder nur besucht werden.

Aber bei Natalia gab es offenbar weniger Probleme, ihr Vorteil ist vermutlich auch,

dass sie muttersprachlich russisch spricht, also da zumindest keine Verständigungsprobleme hat.

Sie hat mir aber auch erzählt, dass sie unterwegs zwei andere Mütter getroffen hat,

die eine hat geschafft ihr Kind zurückzuholen, die andere aber nicht.

Und Natalia, also schafft sie es denn zu Igor nach dieser langen und beschwerlichen ODC?

Sie findet ihn in Anapa und es ist dann so, dass die Dokumente, die sie vorher organisieren musste,

in dem Camp vorzeigen muss, sie muss ihren Pass vorzeigen, die Geburtsurkunde von Igor,

sie muss dann verschiedene Papiere unterschreiben und es gibt einen Wiedersehen, beide freuen sich,

haben sie jetzt hier mal auch Fotos gezeigt, wie sie hier zusammen Selfies gemacht haben,

da zusammen die Zeit genießen.

Wie, also Igor wird einfach so gehen gelassen und kann wieder mit seiner Mutter zurück?

Offenbar ja, sie durfte Igor dann mitnehmen. Sie sagt auch, dass kein Lösegeld bezahlt worden ist,

das sei sie ausdrücklich. Nein, nein, überhaupt gar kein Geld.

Hatte ich das eigentlich genauso überrascht wie mich, dass die Familien zurückdurften?

Offenstand ja. Auch dass es für manche offenbar leicht ist, die Kinder auch wieder zurückzuholen.

Also leicht, wenn man einmal in Russland ist und diesen ganzen Weg, die ganzen Gefahren und die

ganzen Papierkram erledigt hat, aber dass sie nicht mehr gehen gelassen werden. Das hat mich schon

überrascht und mich hat auch während der Recherche umgetrieben, wieso lassen die Russen die Kinder

eigentlich wieder gehen? Was kriegen die im Gegenzug dafür? Wie schaffen die Ukrainer das,

die Kinder zurückzubekommen? Und darüber habe ich mit der Kommissarin für Kinderrechte der

Ukraine Daria Herasim Cuk gesprochen und habe sie auch gefragt, was kriegen die Russen denn im

Gegenzug? Wer hat ihnen gesagt, dass sie die Kinder zurückgeben? Ich habe nie davon gesprochen,

dass sie Kinder zurückgeben. Bis jetzt haben wir mindestens 308 Kinder geholt, plus noch mal 15

heute. Es war nicht mit Zustimmung Russlands. Das ist kein Austausch und noch mehr. Die Russen

wissen gar nicht, dass die Kinder zurückgebracht werden. Huch, wie geht das denn? Das frage ich

mich auch und ich habe große Fragezeichen zu der Aussage. Ja, total, oder? Also ich meine, die machen

das dann mit einem riesigen Aufwand. Da steckt Geld hinter, Personal hinter. Da gibt es natürlich,

denke ich mal, Listen darüber, welche Kinder dort sind und welche auch dort abgeholt werden,

persönlich. Es lässt sich schwierig überprüfen, aber die ukrainische Kommissarin sagt,

Zitat, das ist kein Austausch. Also es gibt keine Kriegsgefangenen, keine Lösegeld,

keine anderen Gegenleistungen dafür. Und Russland gibt diese Kinder nicht zurück,

sondern sie werden zurückgeholt. So ist es, wie sie es beschreibt, schwierig zu sagen, was

da dran ist. Also wenn es nicht so ist, dass es eine Art Verschleppungen mit Lösegeld-Epressung

ist oder so, dann fragt man sich natürlich, was ist eigentlich die Motivation dahinter? Also klar,

wir können jetzt nicht in Putins Kopf schauen, aber was ist denn die Strategie dann dahinter

oder könnte die Strategie dahinter sein? Da ist mir im Kopf geblieben, was mir eine andere

Mutter geschildert hat. Ihre Tochter wurde auch nach Russland deportiert und sie sagt,

sie ist auch nach Russland gekommen und während ihrer Reise hat es dauernd Angebote gegeben,

dass sie doch in Russland bleiben möge, dass sie einen Pass kriegen würde, dass sie Geld bekommen

auch Land bekommen würde, auf dem sie leben könne, in Russland. Sie haben alles mögliche

gefragt, wie willst du nicht deine Staatsbürgerschaft ändern? Ich sagte, ich bin nur zu Besuch,

ich habe ein Haus. Ich bin eigentlich aus der Ukraine und dabei hatte ich Angst, sie zu beleidigen.

Und sie sagte mir, dass die Kinder eine Strategie sind, um ganze Familien zu bekommen. Also die Kinder

als Köder sozusagen, um Familien aus der Ukraine dazu zu bewegen, nach Russland zu kommen,

sich dort in die russische Gesellschaft zu integrieren und Teil Russlands zu werden.

Also die sollen so eine Adlokmittel sein? So ungefähr, so hat sie mir das geschildert. Es passt

in diese Erzählungen, die Russland seit Anbeginn des Angriffskrieges erzählt, dass Russland eigentlich

etwas Gutes tut. Die ukrainische Seite hingegen, die Formulät ist auch sehr drastisch, sie sagt,

dass diese Verschleppung von Kindern Teil eines Genozides sei. Und zwar, weil es Russland darum geht,

die ukrainische Kultur Identität auszulöschen. Wie viele Kinder und Jugendliche aus der

Ukraine haben denn möglicherweise eine ähnliche Geschichte? Das ist offen gesagt ganz, ganz schwierig

zu beantworten. Die ukrainischen Angaben sagen, dass es über 16.000 Kinder sind, die verschleppt

worden sind, also eine ziemlich große Zahl. Diese Zahl stammt aus dem Präsidialamt der Ukraine.

Für mich hat sich aber nicht ganz erschlossen, wie sich diese Zahl eigentlich zusammensetzt,

wie genau diese Zahl berechnet worden ist. Die russischen Angaben sind deutlich niedriger,

die sagen, dass 380 Kinder auf Russland verteilt worden sind, also Kinder alleine, die verteilt

worden sind. Die Europäische Union sagt, dass es 16.200 Kinder sind, aber da ist mein Eindruck,

dass sie sich stark auf diese ukrainischen Zahlen beziehen. Also ganz klar ist mir noch nicht,

wie viele Kinder das tatsächlich sind. Aber um mal einen Druck zu geben, den Igor mehr geschildert hat,

er hat gesagt, dass ungefähr 1.000 Kinder mit ihm zusammen in dem Camp gewesen sind.

Ah, okay, nur in dem, wo er war gleichzeitig. Genau. Ja, das ist auch Teil, glaube ich, von dieser

Schwierigkeit, das zu durchblicken, auch von außen in diesem Konflikt einfach, in diesem Krieg

zu sehen, wer möchte denn hier was erreichen, was passiert wirklich, halt auch diese Ambivalenzen

so ein bisschen zu sehen. Weil wenn man hört, da werden Kinder verschleppt, ist vielleicht auch

die erste Assoziation, da kommt jemand, der zährt die raus. Vielleicht sind das dann doch eher so

Grautöne, dass dann vielleicht das auf einer Erstfreiwilligkeit basiert, dann geht es da dann

darum, jemand rüber zu locken, vielleicht zu überreden. Das ist dann doch subtiler und ein

bisschen weniger schwarz-weiß, als man vielleicht denkt, oder? Das ging mir genauso. Ich habe,

bevor wir mit der Recherche begonnen haben und nicht nur grob über das Thema gelesen, habe

mir auch mal vorgestellt, dass es vor allen Dingen Kidnapping sei, dass Kinder von der Straße

geraubt werden. Und diese Fälle gibt es anscheinend schon. Ich sehe das in den Berichten von anderen

Journalisten, Kollegen, auch das Weisenhäuser komplett ausgeräumt werden, also die Kinder dort

verschleppt werden. Die Fälle, die mir begegnet sind, zeigen aber in der Tat weniger schwarz-weiß und

mehr Grautöne. Das ist zwar schwer nachzuvollziehen, aber irgendwo doch verständlich ist, wieso und wie

diese Kinder in Russland oder in russisch besetzten Gebieten gelandet sind. Was aber eindeutig ist,

ist, dass die Verschleppung von Kindern einen Kriegsverbrechen darstellt. Da ist das Völkerrecht

ziemlich eindeutig. Kinder sind besonders geschützt, sind als Zivilisten geschützt, aber auch als Kinder

besonders geschützt und deren Verschleppung ist ein Kriegsverbrechen. Wie geht's, Igor,

und seiner Mutter Natalia, denn inzwischen, als du mit ihnen gesprochen hast, also zwei Wochen

nach ihrer Rückkehr? Ich glaube, sie sind beide vor allen Dingen erleichtert und sie sind froh,

dass sie wieder vereint sind, dass sie auch wieder in der Ukraine sind. Ich hatte den Ahnung, dass

Natalia immer noch diese Vorwürfe mit sich herumschleppt, dass sie ihren Sohn in dieses Lager

hat gehen lassen, auch wenn ich die Beweggründe und ihre Motivation irgendwo auch nachvollziehen kann.

Die Familie lebt zurzeit auch nicht im Heimatdorf, sondern in der Flüchtlingsunterkunft,

vielmehr in der Unterkunft für Vertriebene. Also noch mal eine zusätzliche Belastung.

Die hatten noch gar keine Zeit, zu reflektieren, das zu verarbeiten wahrscheinlich.

Genau, und das glaube ich auch noch nicht abzugleichen mit dem, was auf der großen

weltpolitischen Bühne passiert, dass die kleine Geschichte von Igor ein Bestandteil ist von vielleicht

etwas viel, viel größerem und sehr, sehr grausamer.

Die Verschleppung ukrainischer Kinder durch Russland hat übrigens auch die USZE untersucht,

also die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Und die kommt zu dem

Schluss, dass es sich bei der Verschleppung der Kinder um Kriegsverbrechen handelt. Und

Menschen systematisch gegen ihren Willen an einem anderen Ort festzuhalten, dass

sie möglicherweise auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu werten, so die USZE.

Das war FKM, der Tagesschau-Podcast. Tobias, damals Film, für den er zusammen mit

Varia Molchanova zu Verschleppten Kindern recherchiert hat, findet ihr beim ARD-Welspiegel.

Den Link packen wir euch in die Shownotes. Dort lernt ihr auch Nastia kennen, die ebenfalls

nicht mehr aus Russland raus durfte. Uns, FKM, findet ihr in der ARD-Audiothek und überall,

wo es Podcasts gibt. Hat euch diese Folge gefallen, dann schickt sie gerne weiter und abonniert

uns. Folgenautorin ist Jasmin Brock. Mitgearbeitet hat Sandro Schröder. Produktion Ursula Kirstein,

Gerhard Wichow, Jonas Teichmann, Konrad Winkler und Simon Schuling. Redaktionsleitung Lena Götler

und Fumiko Lipp. FKM ist eine Produktion von BR24 und NDR Info. Mein Name ist Victoria

Michalsack, macht's gut. Bis zur nächsten FKM-Folge habe ich noch einen Podcast-Tipp für euch.

DeepDoku vom RBB. Das ist ein Storytelling-Podcast und erzählt jede Woche eine wahre Geschichte

aus Berlin und der Welt. Zu den bewegenden Geschichten gehört zum Beispiel ein Antiputinsender

aus Berlin, der kremlkritisch berichtet. Die Folge findet ihr wie FKM auch in der ARD-Audiothek.

Link findet ihr in den Shownotes. Das hier ist DeepDoku und wir erzählen euch jede Woche

eine neue wahre Geschichte aus Berlin und der Welt. Ich war sehr verliebt und er nicht und der war

dann auch so grausam zu uns, also schon in der Schwangerschaft. Mein Name ist Johannes Nichelmann

und mein Team und ich, wir stellen euch Menschen vor, die ihr, wie wir finden, unbedingt kennenlernen

müsst, weil ihre Geschichten uns alle etwas angehen. Zum Beispiel, weil sie vor politischer

Verfolgung aus Berlin flüchten mussten. Und es geht um Menschen, die es schaffen mit Gags über

den Krieg, die Berliner Comedy-Szene aufzumischen. DeepDoku, wahre Geschichten aus Berlin,

und der Welt. Neue Folgen gibt's ab jetzt wieder jeden Mittwoch in der ARD-Audiothek und überall da, wo's Podcast gibt.

Machine-generated transcript that may contain inaccuracies.

Der sechzehnjährige Ukrainer Ihor soll raus aus seinem von Russland besetzten Dorf – vier Wochen in ein Camp in Russland. Es sollte der allererste Urlaub in seinem Leben werden, in Sicherheit vor dem Krieg. Doch einmal im Camp in Russland angekommen, wird er nicht mehr nach Hause gelassen zu seinen Eltern in der Ukraine. In dieser 11KM-Folge erzählt Tobias Dammers die Geschichte von Ihor, der gegen seinen Willen in Russland festgehalten wird. Und wie seine Mutter Natalja dann verzweifelt versucht, ihr Kind zurückzubekommen.



Journalist Tobias Dammers hat für den ARD Weltspiegel die Geschichte der Familie recherchiert. Er ist auf weitere Fälle von Verschleppung von Kindern gestoßen, mutmaßliche Kriegsverbrechen.



Der Weltspiegel-Film in der ARD Mediathek: https://www.ardmediathek.de/video/weltspiegel/ukraine-das-schicksal-der-verschleppten-kinder/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3dlbHRzcGllZ2VsL2UxMGRiZTdkLTY3ZmYtNDg5MS05MjBlLTMwMzQ0MDM0MWYzZA



Wie Kriegsverbrechen nachgewiesen werden können, das haben wir in dieser 11KM-Folge in aller Tiefe erzählt: https://www.ardaudiothek.de/episode/11km-der-tagesschau-podcast/kriegsverbrechen-beweise-sammeln-gegen-putin/tagesschau/12380193/



Weitere Informationen zu den Kinderverschleppungen bei tagesschau.de:

https://www.tagesschau.de/ausland/europa/zwangsadoption-kinder-ukraine-russland-101.html



An dieser Folge waren beteiligt:

Folgenautorin: Jasmin Brock

Mitarbeit: Sandro Schroeder

Produktion: Ursula Kirstein, Gerhard Wicho, Jonas Teichmann, Konrad Winkler und Simon Schuling.

Redaktionsleitung: Fumiko Lipp und Lena Gürtler



11KM: der tagesschau-Podcast wird produziert von BR24 und NDR Info. Die redaktionelle Verantwortung für diese Episode trägt der NDR.



Unser Podcast-Tipp für euch: “Deep Doku” vom rbb:

https://www.ardaudiothek.de/episode/deep-doku/kampf-gegen-propaganda-ein-anti-putin-sender-aus-berlin/rbbkultur/12539567/