FALTER Radio: SchauspielerInnen lesen: Eine Familie im Krieg - #901
FALTER 3/7/23 - Episode Page - 26m - PDF Transcript
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Zuhörer. Willkommen im Falter Radio. Mein Name ist Florian Kleng. Ich bin der Chefrektor
des Falters und Sie hören hier heute etwas ganz Besonderes. Fünf Schauspielerinnen und
Schauspieler, vier davon von Wienerburg Theater, leihen heute einer ukrainischen Familie im Krieg
ihre Stimmen. Die Familie Schabelnick, alle Namen wurden von der Redaktion geändert und die
Familie nicht zu gefährden, wurde vom russischen Angriffskrieg auseinandergetrieben. Der Vater,
ein Getreide-Industrieller, lebt mit dem 18-jährigen Sohn derzeit in Kiew. Die Mutter, eine Marketingkauffrau,
Mund mit der jüngeren Tochter, sie ist um die 30 in Deutschland. Und die ältere Tochter, sie ist
ebenfalls in ihren 30ern, ist mit ihrem kleinen Sohn nach Wien geflohen und lebt hier. In einem
rund acht Stündigen zum Gespräch habe ich die Familie gefragt, wie sie die ersten Tage des
Krieges erlebt hat, wie sie flüchten konnten und wie es ihnen heute geht. Ich habe dieses Gespräch
dann montiert, übersetzt und der Familie zur Autorisierung zurückgeschickt. Wir haben die
zum Teil sehr schockierenden und traumatisierenden Erzählungen der Familie, soweit es uns möglich
war, gegengecheckt. Ich persönlich kenne die in Wien lebende Tochter der Familie, ihren Sohn
und ihre Mutter seit über einem Jahr. Vertont wird dieses autorisierte Gesprächsprotokoll nun von
Schauspielerinnen und Schauspielern der Wiener Burg. Mein herzlicher Dank gilt deshalb den großartigen
Assemblemitgliedern Stefanie Tworak, Sabine Haupt, Felix Kammerer und Michael Mertens und der
ehemaligen Burgtheater Schauspielerin Petra Marze. Diese Vertonung der Protokolle steht in einer
längeren Tradition, die der Falter mit dem Burgtheater hat. Im Jahr 2018 haben wir die
Reden rechtspopulistischer Politiker mit Mitgliedern des Burgtheater Ensembles auf die
Bühne gebracht. Wir haben damals vor der illiberalen Gesellschaft gewarnt. Der Angriffskrieg Russlands
auf die Ukraine ist nicht zuletzt auch ein Krieg gegen die liberale Gesellschaft.
Sophia Schabelnik, Mutter der Familie, hat als Market-In-Kau-Frau gearbeitet. Sie wuchs in
Kyiv auf, lebt derzeit mit ihrer Tochter in der Nähe von Stuttgart und besucht immer wieder ihre
nach Wien geflorene Tochter und ihren Enkel, gelesen von Petra Marze. Alex Schabelnik, der
Vater der Familie, arbeitet als Getreideproduzent in der Nähe der Belarusischen Grenze. Er blieb
zunächst in Kyiv, flüchtete nach Ungarn und kehrte im April 2022 wieder zurück, gelesen von
Michael Mertens. Valentina Schabelnik, die jüngere Tochter der Familie, sie arbeitet für einen
internationalen Konzern der landwirtschaftliche Maschinen herstellt. Sie lebt derzeit in der
Nähe von Stuttgart, gelesen von Stefanie Tvorhak. Anna Schabelnik, die ältere Tochter der Familie,
arbeitete in Kyiv als Pressesprecherin im internationalen Berufsumfeld. Sie studierte
in Wien und flüchtete mit ihrem Sohn hierher. Sie reist gelegentlich nach Kyiv, gelesen von Sabine
Haupt. Vasil Jabernik, der 18-jährige Sohn der Familie. Er studiert Wirtschaft in Kyiv. Er
flüchtete zunächst mit der Mutter nach Deutschland, kehrte aber schon bald wieder nach Kyiv zurück,
trotz der Gefahr, zur Militär eingezogen zu werden. Gelesen von Felix Kammerer. Es war im Dezember.
Ich war Skifahren in den ukrainischen Bergen. Auf einmal kamen Anruf meiner Firma eines globalen
Konzerns. Das Management wollte uns mit einer Notfallbox versorgen, falls die Russen angreifen.
Kartons mit Trockennahrung, Benzin, Medikamente, solche Sachen. Ich hielt das für völlig übertrieben
und dachte, ich brauche das nicht. Ein paar Wochen später, Mitte Februar, alarmierte uns die Firma
erneut. Es gebe die gesicherte Information, dass ein Krieg bevorstehe. Kurz vor Kriegsausbruch war
die beste Zeit meines Lebens. Der Lockdown war vorbei. Ich war Erstsemestriger an der besten
ukrainischen Uni, spielte leidenschaftlich gern Basketball. Ich weiß noch, wie ich eine Woche vor
dem Angriff der Russen mit meinem Vater darüber diskutierte, wie unwahrscheinlich der Krieg sei.
Aber als die Firma meiner Schwester so eindringlich warnte, da hat uns das alle nervös gemacht.
Die ganze Familie kam zusammen und wir berieten, wie wir uns im Ernstfall verhalten. Ich war sicher,
dass es keinen Krieg geben werde. Und ich spüre heute eine tiefe Enttäuschung darüber,
dass ich mich trotz meiner Lebenserfahrung dermaßen irren konnte.
In den Wochen vor dem Angriff häuften sich beunruhigende Nachrichten. Ich
arbeitete in Kiew als Kommunikationsexpertin und verfolgte sie genau. Selenskis Rede bei
der Münchner Sicherheitskonferenz, das beharliche Bitten um Waffen. Einmal kam ein Anruf aus der
Volksschule meines Sohnes, eine Bombendrohung, falscher Alarm. Aber man solle dennoch die
Kinder sofort abholen. Am nächsten Tag in der Arbeit genau die gleiche Meldung, sofort raus
aus dem Gebäude. Im nächsten Moment war ich schon draußen, auf der vereisten Straße,
in der bissigen Kälte mit dünnen Ballerinas. Was noch auf uns zukam, konnte ich nicht ahnen.
Ich erinnere mich an diese irrsinnige Unruhe, diese Besorgnis rund um den Jahreswechsel.
Schon damals fragte ich mich, sollen wir ausreißen oder bleiben? Wir lebten unseren Alltag weiter.
Am Vorabend des Angriffs packte ich für meinem Mann noch den Koffer für eine Dienstreise nach
Schottland. Ich leite einen großen landwirtschaftlichen Betrieb. Meine Felder liegen an der Grenze zu
Belarus. Sogar in der Woche vor Kriegsbeginn investierte ich noch in den Betrieb. Der Preis
für Weizen stand gut. Meine Geschäftsfreunde und ich diskutierten via Skype über Pestizide.
Und dann, am Abend des 23. Februar, hatten wir diesen Familienrat, wo wir den möglichen
Ernst der Lage besprachen. Ich stuch vor, dass wir uns im Notfall für ein paar Tage Richtung
Westen bewegen und irgendwo in der Ukraine Schutz suchen.
Papas Entschluss war, dass alle bis auf ihn und Oma Kieh verlassen sollten. Ich war nicht
einverstanden. Ich sagte, wir haben doch noch Zeit, um ordentlich zu packen.
Ich war dann alleine zu Hause und hatte eine Message bekommen, dass Putins Rede begonnen
habe. Mir gefreut das Blut in den Adern. Ich telefonierte mit einer Freundin, die ganz
außer sich war. Ich klickte zur Entspannung auf YouTube nur noch eine Pilatesübung an.
Ich fotografierte eine Tasse grüner Tee und schickte das Bild einer Arbeitskollegin mit
den Worten, nimm ein Entspannungsbad. Es war mein letztes Foto vor dem Krieg. Wir diskutierten
noch, ob wir morgen zur Arbeit gehen. Dann ging ich zu Bett und schlief ein. Und in der
Früh, als ich mein Handy einschaltete, war meine Timeline voll. Meine Schwester rief mich
in meiner Wohnung an und sagte, der Krieg hat begonnen, pack die Sachen, komm ins Elternhaus,
wir sollten alle zusammenhalten. Am Abend des 23. Februar konnte ich nicht
schlafen. Ich nahm meinen Basketball und spielte von Mitternacht bis 2 Uhr früh auf einem
nahegelegenen Platz. Es fühlte sich alles so surreal an. Ich sah beim Scrolling eine Nachricht
eines ukrainischen Politikers, der meinte, es werde einen vollen Angriff geben. Ich habe
noch einmal den Basketballplatz fotografiert, als Erinnerung an diesen Augenblick. Das
Foto habe ich immer noch auf dem Handy. Die ersten Explosionen rissen mich aus dem Schlaf.
Wie später erfuhr, sind über 300 Panzer von Russland aus in die Gegend vorgestoßen,
wo mein Betrieb liegt. Sie war Durchmarschgebiet. Die Russen sind in die Ukraine reingefahren
wie ein warmes Messer in die Butter. Ich war wütend. Ich wollte das alles nicht
aufgeben. Mein Job, meinen Freund, mein Leben. Ich packte das nötigste ein. Ich schnappte
meinen weißen Skihelmen. Ich dachte, dass er mir Schutz bietet, sollte ich mit dem Auto
fliehen müssen. Ich merkte, dass in dem Notfallpaket, das mir meine Firma gegeben
hatte, ein Kanister mit Superbenzin enthalten war. Aber mein Auto braucht Diesel. Als ich
losfuhr, warteten vor den Tankstellen schon Autoschlangen. Überall staute sich der Verkehr.
Die Leute gerieten in Panik. Aber unser Präsident sagte, alles ist unter Kontrolle. Bleiben Sie
ruhig. Wir haben das Wert vollständig in den Keller getragen. Unsere Dokumente und
unsere Fotoalben. Wir wussten, dass wir diese Wertsachen bei einer Flucht nicht mitnehmen
können. Ich habe mit viel Liebe diese Fotoalben gestaltet. Ich konnte einfach nicht fassen,
dass jetzt ein Krieg beginnt. Ich habe in die Augen meines Freundes geschaut. Es ist
schwer, diese Gefühle zu beschreiben, diese Todesangst. Man muss schnell handeln. Was
packt man ein? Ich hör denn jener ersten Nacht Geräusche, die an jedem anderen Tag
ganz harmlos klingen. Der Sound von Flugzeugen, die ganz tief fliegen. Ein Geräusch, das man
sonst nur von Feuerwerken kennt. Aber jetzt war Krieg. Wir sind in schwarzer Nacht vom
Krieg geweckt worden. Und eine der ersten Sorgen galt unserer Oma, die noch in der Innenstadt
in einem Hochhaus wohnte. Ich rief meinen Bruder an und sagte, hey, steh auf. Wir müssen
die Oma holen. Weil die Stadt als erstes angegriffen wird.
Ich hatte meine Frau mit den Worten geweckt, dass das passiert ist, wovor wir uns zwar
gefürchtet, was wir aber für unmöglich gehalten haben. Dass uns eine Atomstreitmacht angreift.
Mir wurde auf einmal bewusst, dass da hunderttausende Soldaten Richtung Kiev losgezogen sind. Die
erste Woche war ein Albtraum. Er wurde nur dadurch gelindert, dass unser Präsident
nicht geflohen ist. Ich wünsche mir, dass die Menschen, die das hier lesen, sich einmal
vorstellen, wie das ist, wenn eine Rakete in ein Wohnhaus fliegt. In einer europäischen
Großstadt sterben hunderte Menschen, weil dein Nachbarland eine Atomstreit macht, eine
Rakete auf dein Haus schickt. Einfach so.
Ich spürte diese tiefe Unruhe in mir. Aber ich hatte keine Panik. Ich wollte nächstes
nicht mehr schlafen, denn da waren ja immer wieder Angriffe. Am Tag haben wir Holz aus
dem Keller geholt und die Fenster vernagelt, damit sie nicht splittern. Man durfte auch
nicht mehr raus. Die Regierung verhängt eine Ausgangssperre. Ich durfte nicht mehr Basketball
spielen.
Jeder, der sich in der Stadt bewegte, musste damit rechnen, erschossen zu werden. Schon
bald wurde uns klar, dass wir uns wehren werden. Wir wussten aber nicht, wie lange wir durchhalten
werden. Auch der Präsident sagte das. Dadurch entfaltete sich der Glaube, dass wir das alle
durchstehen. Aber nach weniger als einer Woche standen all die Panzer rund um Kiew. Im Fernsehen
sah man diesen Belagerungsring, der sich immer mehr schloss.
Wir waren insgesamt 13 Personen im Haus. Mein Mann und ich, unsere drei Kinder und
unsere Enkel und acht weitere Bekannte aus der Nachbarschaft. Wir haben dann auch noch
ein Kind aufgenommen, das starre vor Angst am Handy klebte. Ich wollte noch einen Großeinkauf
machen, aber schon bald gab es kein Brot mehr. Die Geschäfte waren leer, also lernten wir
Brot zu backen.
Etwa 30 Kilometer entfernt lauerte die absolute Todesgefahr. Als später die Bilder aus Butschau
und Irpin kamen, wurde mir bewusst, jeder wird in diesem Krieg angegriffen.
Wir haben uns immer wieder abgestimmt, wie wir uns verhalten, wenn die Russen kommen.
Ich sagte, wir schreiten nicht mit ihnen. Wir geben ihnen alles, unsere Wertsachen,
unsere Autos, alles. Aber wir wussten auch, dass in unserer Familie viele Frauen sind.
Wir scharten immer wieder auf die Karten und Grafiken. Die Kreise rund um Kiew wurden
enger und enger. Am dritten Tag des Krieges wurde ein Freund von mir erschossen. Einfach
so. Weil er auf der Autobahn fuhr. Sie haben ihn einfach abgeknallt und dort liegen lassen.
Seine Mutter durfte den Leichnam erst Wochen später aus dem Autobärgen. Ich sah im Fernsehen
auch diesen Panzer, der ein altes Ehepaar im Auto ermordet hat. Einfach so.
Wäre ich damals schon 18 gewesen, wäre mein Leben ganz anders verlaufen. Viele in meinem
Alter haben sich als Freiwillige für die lokalen Verteidigungsmilizen gemeldet. Ich hatte mir
auch überlegt, ob ich mich melden soll, ob das das Richtige für mich wäre. Ich hatte
davon nie ein Militär oder eine Militärkarriere gedacht. Aber jetzt war die Lage so schrecklich.
Es fühlte sich so an, es wäre meine Familie direkt angegriffen. Dass es uns nicht erwischt
hat, war ja purees Glück. Hätte ich nicht die Familie verteidigen müssen? Die Mehrheit der
Freiwilligen wurde nicht genommen. Also leisteten wir zivilen Widerstand. Wir haben Betonblöcke
herangeschleppt und die Straßen abgesperrt. Und wir hatten enorme Angst, weil wir wussten,
dass Spezialeinheiten der Russen in der Stadt waren. Ohne Uniformen. Es gab so viele Männer,
die sich für die Territorialverteidigung der ukrainischen Streitkräfte anmelden wollten,
dass sie abgewiesen wurden. Manche haben sogar am Boden in der langen Warteschlange geschlafen. Alle
wollten etwas tun. Man trug zwei Gefühle in sich. Dieser enorme Besorgnis und die Familie und
dieser starke Verlangen nach Widerstand und das eigene Leben zu schützen. In dem Haus,
in dem wir nun alle wohnten, wurde ich geboren. Es bedeutete mir alles. Und unser Leben wurde
so surreal. Am vierten Tag des Krieges ging ich in den Garten, um Rasen zu mähen, zu Ablenkung. Und
danach stand ich mit meinem Sohn in der Küche und bastelte mit ihm Molotov Cocktails. Mit meiner
Tochter kam ich dann auf die Idee, Blutspenden zu gehen. Ein Krankenhaus lag ganz bei uns in
der Nähe. Dort wurden die ersten Verwunderten eingeliefert. Wir gingen in einen Park in der
Nähe des Krankenhauses. Die Stadt war damals voller russischer Spezialeinheiten, die sich
versteckten. Auf einmal knallten Schüsse. Wir fühlten uns wie Rehe in einem Jagdgebiet. Wir
wussten nicht mehr, in welche Richtung wir laufen sollten. Plötzlich kam uns ein Mann
entgegen und sprach uns auf Russisch an, fragte nach dem Weg. Er kannte sich nicht aus und sprach
selbst dann noch russisch, als wir auf ukrainisch antworteten. Er war komplett verschwitzt. Sicherlich
einer von den Spezialeinheiten. Wir randen und randen. Ich merkte, dass meine Mutter einfach
nicht mehr so schnell laufen konnte. Wir hatten wirklich Todesangst. Und Glück.
Mein Vater fragte mich damals, hast du je Flächenbomber-Mans gesehen? Er wusste,
dass Putin alles schicken wird, was er hat. Wir saßen wieder gemeinsam da und wussten nun,
dass wir abhauen mussten. Es war zu gefährlich, in Kiew zu bleiben. Auch mein Neffe, erst zehn
Jahre alt, musste gesützt werden. Mit dem Auto war es zu gefährlich. Autos wurden beschossen.
Mit dem Zug war es fast unmöglich, weil tausende auf dem Bahngleisen standen. Aber wir hatten
riesiges Glück. Eine Studienfreunde meines Bruders meldete sich und meinte,
dass es eine Möglichkeit gibt, aus Kiew rauszukommen. Es hieß, wir durften nur einen
Rucksack mitnehmen. Wir mussten Eltern unseren Hund zurücklassen, durften nur das Nötigste dabei
haben. Ich blickte meinen Freund an, verabschiedete mich und heulte. Mein Vater blieb zurück. Nur
meine Mutter, meine Schwester, mein Bruder, mein Neffe und ich zogen los. Es war wie in einem
Gangsterfilmen. Wir kamen zum Hauptbahnhof. Dort war alles organisiert. Jemand nahm uns zum
Abstellgleis. Wir setzten uns in einen abgesperrten Zug. Die Schaffnerin meinte, wir sollten die
Rollos runterziehen. Es werde gleich sehr laut werden. Der Zug formit uns dann am Bahnsteig ein.
Normalerweise sitzen 40 Personen in einem Zugabteil. Doch es waren diesmal fast zehnmal so viele.
Du kannst dir diese Massen nicht vorstellen. Wir reißen in absoluter Dunkelheit. Niemand
ließ an Handy leuchten. Wir wussten nicht, ob man uns mit einer Rakete abschießen würde. Wir
mussten unseren Enkel irgendwie beruhigen. Also spielten wir alle, dass wir Spione sind. Nach
zwölf Stunden sind wir endlich an der ungerischen Grenze bei Ushhoroth angekommen. Wir überlegten
nun, wie wir die Grenze passieren. Denn die Hauptsorge galt meinem 17-jährigen Sohn. Es war
Anfang März und in ein paar Wochen wurde er volljährig. Es quälte mich der Gedanke,
dass sie ihn vielleicht nicht draus lassen. Also ging ich immer hinter ihm, damit ich bei ihm
bleibe, falls ihm die Ausreise verwährt würde. Die Grenzbeamtin blickte in den Pass und sagte,
sie haben mir mein Geburtstag. Pause. Dann sagte sie, wie schön. Ich auch. Dann ließ sie uns durch.
Diese Ungewissheit, dieses Gefühl nicht zu wissen, wie es weitergeht. Es war kaum zu ertragen. Dann
holten uns Freunde meiner Tochter ab und brachten uns ins Hotel. Und wir riefen den Vater an. Ich
war in Kiew im Haus mit meiner Mutter geblieben. Die Russen waren in unmittelbarer Nähe. Es gab
Raketenangriffe auf Einkaufszentren, Hochhäuser, ein Erdöl-Lager. Mein Betrieb, der an der belarustischen
Grenze liegt, wurde besetzt. Ein Hotel, in dem ich auf meinen Dienstreisen zu den Feldern gerne
gewohnt habe, wurde dem Erdboden gleich gemacht. Ich hatte das Personal so ins Herz geschlossen.
Die Russen haben das Haus mit einer 500-Kilo-Bombe einfach in die Luft gesprengt. Wo das Hotel war,
ist nun ein Loch. Die Russen wurden dann von der Gegend verjagt, aber die Landschaft rund um
meinen landwirtschaftlichen Betrieb ist völlig verwüstet worden. Ausgebrannte Wrax, überall
Schrott. Wenn man nach Kiew zurückgefahren ist, gab es rund 30 Kilometer Stau, weil wichtige Brücken
zerstört worden waren. Ich fühlte mich so schlecht, weil wir flüchteten. Ich hatte das Gefühl,
alle betrogen zu haben. Uns ging es ja gut. Wir waren glücklich. Wir haben unser Haus nicht
verloren. Niemand aus unserer Familie starb. Meine Frau, meine Kinder und mein Enkel waren endlich
in Ungarn. In Kiew häuften sich derweil die Meldungen von absichtlich in Hinrichtungen der
Zivilbevölkerung rund um die Stadt. Sogar auf Autos mit der Aufschrift Kinder wurde geschossen.
Am 10. März reiste ich daher auch aus mit dem Auto nach Ungarn. Neben mir saß meine betagte
Mutter. Wir sind unzertrennlich. Wir fuhren zunächst auf einer Autobahn, die immer wieder
eingekreist und beschossen wurde. Wir fuhren etwa 800 Kilometer. Ständig gab es Staus und
Checkpoints. Aber schließlich kamen wir in Ungarn an. Ich blieb einige Zeit. Als später die
Gegend rund um mein Betrieb befreit wurde, kehrte ich nach Kiew zurück. Jetzt sitze ich übrigens
gerade im Kinderzimmer meines Enkels. Sehen Sie die Kindertapeten? Wir dachten zunächst,
das ganze Drama werde in 102 Wochen vorüber sein und wir würden bald wieder nach Hause gehen.
Aber bald wurde klar, dass dieser Krieg dauern kann. Wir können unserem Enkel nicht zumuten,
im Krieg zu leben. Die Bomben, die Raketen. Meine jüngere Tochter, mein Sohn und ich zogen
nach Deutschland. Meine ältere Tochter nach Wien. Mein Sohn verfiel aber schon bald in eine schwere
Depression, weil er nicht zum Vater konnte. Ich wünschte mir so sehr, dass er an einer europäischen
Uni inskribiert. Aber aus einem lebensfrohen Jugendlichen wurde ein verschlossener Mensch.
Er ging nicht mehr aus dem Zimmer. Schließlich reiste er im Augustferne Besuch zurück in die
Ukraine. Mir war klar, dass er nicht mehr zurückkommt. Immerhin. Solange er studiert,
kann er nicht eingezogen werden. Aber das kann sich auch schnell ändern. Der Gedanke ist kaum
auszuhalten. All das, was mein Leben lebenswert machte, war ja auf einmal weg. Und meine Freunde
blieben zurück. Studienkollegen aus der Uni fielen im Krieg. Ich konnte mental nicht ankommen.
Diese Heiterkeit der Burschen am Spielplatz, die Sorglosigkeit der Leute um mich herum.
Ich hielt es nicht aus. Ich gehörte einfach nicht dazu. Gedanklich war ich immer noch in
Kiew. Dann noch diese ständigen schrecklichen Horrormeldungen, die unfassbare Grausamkeit
der Russen. Erschossene Zivilisten, Vergewaltigungen, verschleppte Kinder. Ich merkte auch, wie schlimm
das Ganze meinen Vater erwischte. Sein Betrieb, sein Lebenswerk, war kurz vor dem Korkurs.
Mit der Entscheidung nach Hause zu gehen, kam eine gewisse Erleichterung. Es war die richtige
Entscheidung für mich, auch wenn diese eine mögliche Einberufung in die Armee bedeutet.
Ich war für meinen Vater da, ging mit ihm durch die Felder, halb wo ich nur konnte.
Ich bin nicht nach Deutschland weiter gereist. Ich hatte vor einigen Jahren in Wien studiert
und wollte daher nach Österreich. Mein kleiner Sohn geht hier nun zur Schule und lernt Deutsch.
Ich habe eine befristete Stelle gefunden und eine kleine Wohnung. Die ersten Monate
waren für mich so surreal. Stündlich habe ich die Nachrichten verfolgt. Ich hatte mich
eigentlich emotional sehr unter Kontrolle. Ich habe kaum geweint. Ich konzentrierte mich
als Alleinerziehende auf meinen Buben. Aber die Bilder von den komplett zerstörten Städten,
etwa in Marjopol, die wühlen mich auf. Wieso sind die russischen Soldaten zu so einer Brutalität
fähig? Wien ist so eine schöne Stadt. Aber es ist trügerisch zu glauben, dass das, was
uns passiert ist, nicht auch eines Tages den Wienern passieren kann.
Sie hörten die Vertronung eines Gesprächsprotokolls einer vom Krieg vertriebenen ukrainischen
Familie. Gelesen haben die Schauspielerinnen Petra Marzee, Sabine Haupt, Stefanit Warak
und die Schauspieler Felix Kammerer und Michael Mertens. Damit wir solche Projekte auch in
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Danke für Ihr Interesse, bis zum nächsten Mal.
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Zerrissen zwischen Kiew, Stuttgart und Wien beschreibt eine Familie den täglichen Horror des Krieges in der Ukraine. Ein achtstündiges Zoom-Gespräch wurde für diesen Text redigiert, montiert und zur Autorisierung freigegeben. Eingelesen wurde der Text von den Burgtheaterschauspieler:innen Stefanie Dvorak, Sabine Haupt, Felix Kammerer, Michael Maertens sowie dem ehemaligen Ensemblemitglied Petra Morzé, bei denen sich der FALTER herzlich bedankt.
Hier finden Sie das gesamte Gespräch als Text:
https://www.falter.at/zeitung/20230301/eine-familie-im-krieg/_02a384612f
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