11KM: der tagesschau-Podcast: Millionen gegen Macron: Generalstreik in Frankreich

tagesschau tagesschau 3/14/23 - Episode Page - 28m - PDF Transcript

Stell dir vor, es ist Streik und alle gehen hin.

Na gut, nicht alle, aber viele.

Generalstreik in Frankreich.

Es fahren keine Züge, der Müll wird nicht abgeholt.

Schulen und Unis bleiben zu.

Denn Präsident Emmanuel Macron will unbedingt eine Rentenreform.

Aber Millionen Menschen in Frankreich wollen sie nicht.

Der Protest geht in eine neue Phase.

Mehr Demonstranten, schärfere Aktionen.

Die Gewerkschaften wollen die Regierung mit aller Macht zwingen,

die unpopuläre Rentenreform zurückzunehmen.

Allein in Paris gingen heute Hunderttausende auf die Straße.

Die Rentenreform hat inzwischen die nächste Hürde genommen.

Der Senat hat in der Nacht auf Sonntag zugestimmt.

Morgen geht der Generalstreik in die nächste Runde.

In dieser Folge von FKM gehen wir mit dem Reporter Jean-Marie Magro

aus der BR-Politik-Redaktion mit auf die Straßen von Paris.

Und klären, warum in Frankreich gerade so hart

um die Rente gestritten wird

und was der römische Gott Jupiter damit zu tun hat.

Ihr hört FKM, der Tagesschau-Podcast.

Ein Thema in aller Tiefe.

Mein Name ist Victoria Michaelzack

und heute ist Dienstag, der 14. März.

Bonjour, Jean.

Bonjour, Victoria.

Du musst dir vorstellen,

Paris gibt es ja sehr kleine, schmeichelhafte Gassen

und dann gibt es abwechselnd dazu sehr große Boulevards,

also so große Alleen,

auf denen man normalerweise sehr schwere Autos fahren sieht.

Und die waren voll mit Menschen, voll mit Bussen,

die große Boxen aufgebaut hatten,

aus denen Musik drühnte.

Ganz unterschiedlich, mal was Traditionelles, mal Techno.

Dazu haben die Menschen gesungen.

Es gab Stände mit Mergels, also bei uns in Deutschland

würde man ja wahrscheinlich eher einen Currywurststand vermuten.

Hier in Frankreich waren es dann eben so große Kassarolen,

die aufgebaut waren

und in denen diese würzigen Bratwürste gebraten wurden.

Und es war eigentlich eine sehr, sehr feierliche Stimmung

mit 10.000, ich würde sagen 100.000 Menschen,

die ein ganz buntes Bild gaben,

weil die Gewerkschaften hatten eben davor,

dazu aufgerufen zu streiken und zu demonstrieren.

Und die Gewerkschaften in Frankreich

konkurrieren eigentlich gegeneinander

und haben auch verschiedene Farben und ihre Mitglieder

statten sie dann eben mit Warnwesten aus,

die verschiedene Farben dann eben tragen.

Da gibt es zum Beispiel die einen, die sind orange,

die anderen sind blau, die nächsten rot.

Und so gab es ein sehr ansehnliches Bild.

Und es war eigentlich eher so eine Party,

gemischt aber mit einer sehr feindlichen Atmosphäre

gegenüber einen Präsidenten,

den alle eigentlich als jemand Arrogantes empfinden,

der ihnen nicht zuhört.

Warum gehen die Leute da auf die Straße und demonstrieren?

Was ist das, was die so wütend macht?

Es ist so, dass Emmanuel Macron im vergangenen Jahr

das zweite Mal gewählt wurde als Präsident.

Und Macron hatte eigentlich nur zwei große Versprechen.

Das eine Betraf jetzt eher nicht so ein populäres Thema,

noch die Rundfunkabgabe, also das ist jetzt nicht so,

dass da viele Leute deshalb sagen würden,

ich wähle Macron, weil er die Rundfunkabgabe streichen möchte.

Und das andere war eine umfassende Rentenreform.

Er wollte ursprünglich das Rentenalter von 62 auf 65 hochsetzen.

Da hat er schon gemerkt, das ist nicht ganz so populär.

Dann hat er gesagt, okay, wir machen nur 64.

Und mit der Zeit war die Stimmung gegen Macron immer schlechter.

Und man hat dann zwar eben ein Reformvorhaben vorgestellt,

diese 64 Jahre Renteneintritt,

hat aber dann eigentlich nicht damit gerechnet,

was das auswirken würde auf den Straßen.

Es gab eben dann Meinungsumfragen,

die von Woche zu Woche immer schlechter ausfielen.

Also zwei Drittel der Franzosen, 70 Prozent ungefähr,

wollten eben nicht diese zwei Jahre mehr arbeiten.

Und ich habe dann versucht, Menschen anzusprechen,

die so ein bisschen fernabstanden,

die nicht gerade skandiert haben oder mitgesungen haben.

Und wollte halt so mit ihnen darüber sprechen,

wie sie auf diese Reform schauen.

Zum Beispiel habe ich mit einer Rentnerin gesprochen,

die, ich würde jetzt mal sagen, um die 75 ist.

Die hat mir dann erzählt,

dass dieses Renteneintrittsalter, das sie da merkt,

als sie in Rente gegangen ist, waren es 62 Jahre,

als ihre Mutter noch in Rente gegangen ist, waren es 60 Jahre.

Und sie kämpft jetzt quasi dafür,

dass ihre Kinder und ihre Enkelkinder

mehr Zeit in die Arbeit stecken sollen.

Also was mir da vor allem aufgefallen ist,

nicht nur bei dieser Frau,

sondern allgemein auch mit Jüngeren,

mit denen ich gesprochen habe,

zum Beispiel mit einer Studentin

oder mit zwei jüngeren Männern.

Der eine hat zum Beispiel an der Universität gearbeitet,

der andere war freier Szenarist,

also ist er im Kinogeschäft unterwegs,

dass sie eine sehr große Ablehnung

eigentlich gegenüber Arbeit hatten.

Man muss sich ja vorstellen,

arbeiten, travail, im Französischen,

das bedeutet, wenn man es vom lateinischen Ursprung nimmt,

eigentlich sich Leid zuzufügen.

Also Arbeit ist etwas sehr negativ besetztes

mit diesen Menschen gewesen, die protestiert haben.

Es trifft aber nicht unbedingt auf alle Franzosen zu,

möchte ich an dieser Stelle sagen.

Ja, aber sprachlich zeichnen die Franzosen da

ein härteres Bild als in anderen Sprachen,

das stimmt.

Vielleicht auch hier und da über ein

mit dem Blick auf die Arbeit.

Aber in Frankreich wollen vier von zehn Menschen

lieber Einbußen bei ihrer Rentenhöhe

in Kauf nehmen, als dass sie länger arbeiten müssen.

Also früher aufhören und dafür mit weniger Geld.

Genau.

Und das hat, sagen viele Soziologinnen und Soziologen,

vor allem mit der Corona-Krise zu tun.

Denn in Frankreich war es so, 2020,

als der Corona-Ausbruch war und niemand so richtig wusste,

was ist das eigentlich für ein Virus?

Und wir müssen uns abschotten,

wir müssen Abstand halten und so weiter und so fort.

Für Frankreich hat eine ganz andere Strategie damals gefahren,

als Deutschland.

Wir hatten ja den Föderalismus

und in Frankreich hat man einfach von oben herab geordert.

Wir machen es so, dass die Menschen

nur noch eine Stunde am Tag rausgehen dürfen

und nur noch ein Kilometer in einem Umkreis

von einem Kilometer laufen dürfen.

Also es war ein kompletter Lockdown,

den dieses Land erfahren hat.

Viel strenger als bei uns, zumindest am Anfang.

Viel strenger.

Viel strenger.

In dieser Zeit haben viele Menschen

angefangen zu denken, was möchte ich sozusagen

mit dem Rest meines Lebens machen?

Ja.

Und sind so eine Abwägung gekommen,

dass ihnen Freizeit eigentlich wichtiger ist,

als die Rentenhöhe.

Zum Beispiel, als das Geld.

Ja klar, kann ich irgendwie verstehen.

Was war ja ein Einschnitt, würde ich sagen,

in unser aller Leben.

Und es hat vielleicht auch so ein bisschen gezeigt,

ja, es kann alles Mögliche passieren.

Es ist vielleicht auch manches nicht so planbar

und ja, kann ich total verstehen,

dass so eine große Krise, so ein großer Einschnitt,

einen mehr so sich besinnen lässt,

vielleicht auf das, was wichtig ist im Leben.

Man denkt sich ja eigentlich also von 62 auf 64,

das aus deutscher Sicht könnte man denken,

klingt ja eigentlich gar nicht so schlecht,

wie so Regen, die sich eigentlich so auf.

Warum ist das so eine große Sache?

Da bin ich froh, dass wir darüber sprechen können,

dass da, glaube ich, ein großes Missverständnis

in Deutschland besteht.

Wenn du in Deutschland sagst, die Franzosen haben Renteneintrittsalter

von 62 und jetzt 64 sein,

was haben die sich eigentlich so?

Dann greift das zu kurz.

Es gibt eine Zahl, die eigentlich wesentlich entscheidender ist

und die ist die 43.

Und zwar ist es so,

dass man, wenn man eine abschlagsfreie Rente erhalten möchte,

43 Jahre lang eingezahlt haben muss.

Jetzt weiß ich nicht,

Victoria, wann du angefangen hast zu arbeiten.

Also bei mir war es so nach dem Studium mit 24,

wenn ich 43 Jahre hochrechne.

Ich war später.

Dann bin ich bei 67.

Also ich war auf jeden Fall später sogar.

Es wäre dann ja so,

dass zum Beispiel jemand,

der mit 19 Jahren angefangen hat zu arbeiten,

etwa in einem Restaurant

auf einer Baustelle

oder als Handwerksmeister

oder als Krankenschwester.

Wenn die so früh anfängt zu arbeiten,

dann bedeutet das ja für sie eigentlich,

dass sie zwei Jahre lang länger arbeiten muss,

als der Rest, der eben studiert hat zum Beispiel.

Und das war eben so am Anfang

die große Ungerechtigkeit, die man empfunden hat.

Dass man gesagt hat, es kann doch nicht sein,

dass es Multimilliardäre in diesem Land gibt,

dass wir für die Corona-Krise

100 Milliarden einfach so finden,

um Unternehmen zu retten.

Und dann sollen ausgerechnet diejenigen,

die den Laden am Laufen gehalten haben

während der Corona-Krise,

sollen dafür auch noch draufzahlen.

Und das ist der Hauptgrund, würde ich sagen, gewesen,

warum so viele Menschen

sich gegen diese Reform mobilisiert haben.

Also, nur damit man das richtig versteht.

Warum müssten die dann quasi länger arbeiten als andere?

Du fängst an mit 19 zu arbeiten

und dann rechnest du 43 Versicherungsjahre,

dann wärst du bei 62.

Das Renteneintrittsalter ist aber bei 64.

Sprich, das würde für sie zwei Jahre länger bedeuten.

Genau.

Es gibt einen anderen Fall, zum Beispiel bei mir,

der Vater kommt aus einem kleinen Dorf in der Provence.

An den Schluchten, das wäre noch wunderschön gelegen,

nur 2000 Einwohner und einer meiner besten Freunde dort,

hat mit 16 angefangen zu arbeiten.

Hat immer wieder in Restaurants gejobbt

oder als Maler dann immer wieder

eine Unterbrechung gehabt.

Man muss ja eben auch noch dazusagen,

43 Jahre wäre, wenn er 43 Jahre non-stop

in die Rentenkasse eingezahlt.

Ohne Unterbrechung, das ist ja wichtig zu sagen.

Nicht einfach nur insgesamt, sondern am Stück.

Das kennt ja jeder, wie oft ist das mal,

dass man zwischendurch halt das nicht tut.

Aus irgendwelchen Gründen.

Z.B. noch mal Studium, Weiterbildung, eine Pause.

Ja, oder drei Monate lang arbeitslos gewesen,

weil jetzt z.B. bei ihm so gewesen wäre,

dass er in einem Restaurant gejobbt hat.

Und dann ist dann nur eine Saisonarbeit für den Sommer

und dann für den Winter muss er sich dann eben was Neues suchen.

Das passiert halt einfach.

Dann rechnest du von 16 Jahre, 43 Jahre hoch

und wann er diese 43 Jahre lang überhaupt zusammen hat

mit den ganzen Saisonarbeiten und so weiter weiß kein Mensch.

Er hatte mir dann z.B. damals gesagt,

ob ich dann mit 70 in Rente bin oder mit 72,

wer weiß das schon.

Und diese Reform trifft vor allem diejenigen,

oder traf am Anfang vor allem diejenigen,

die am unteren Rand der sozialen Pyramide sind.

Und die Macron-Regierung hatte eben ein großes Problem,

das man am Anfang gesagt hat,

das ist eine Reform, die ist gerecht.

Die verlangt von uns allen gleich viel ab.

Und da hat sich immer mehr herausgestellt,

dass es überhaupt nicht so.

Und das ist der Hauptgrund, würde ich sagen, gewesen,

warum so viele Menschen sich gegen diese Reform mobilisiert haben.

Ich frage mich gerade, jetzt gehen da die ganzen Leute auf die Straße.

Es gibt riesen Demos, Streiks.

Die Leute sind super unzufrieden mit Macron.

Warum möchte er denn diese Reform unbedingt?

Emmanuel Macron ist davon überzeugt,

dass dieses Rentensystem,

es ist eigentlich ein relativ ähnliches System wie das Deutsche,

also ein umlagefinanziertes Rentensystem,

gerettet werden muss,

beziehungsweise so in dieser Form nicht mehr aufrecht zu erhalten ist.

Am Anfang hat man eben gesagt,

diese Reform muss stattfinden

und wir werden sie so gerecht wie möglich gestalten.

Da hat man eben sehr schnell herauslesen können,

mit Gerechtigkeit hat das nicht unbedingt viel zu tun.

Dann wurden sehr viele Zugeständnisse gemacht.

Also eben vor allem für diese Karriere-Long,

also die langen Berufskarrieren,

die langen Berufslaufbahnen,

die auch immer wieder unterbrochen werden,

hat man einige Zugeständnisse gemacht.

Aber dieses Image, die Reform ist nicht gerecht,

hat Macron und hat seine Regierung nicht mehr losbekommen können.

Also hat man umgeschwenkt in der Argumentation.

Man hat dann gesagt,

wir müssen diese Reform machen,

weil wir ansonsten ein so großes Defizit in unserer Rentenkasse bekommen,

dass wir das System nicht mehr halten können.

Das ist ja irgendwie auch nachvollziehbar.

Also diese Rentensysteme,

wie wir das ja auch in Deutschland haben,

da kann man ja jetzt schon in die Zukunft schauen und merken,

das wird wahrscheinlich nicht so richtig aufgehen.

Also in Deutschland haben wir das Problem ja auch.

Total.

Man kann ja verstehen, dass man sagt,

da muss sich was ändern,

weil wir sehen ja eigentlich schon jetzt,

die Rechnung geht einfach nicht auf.

Aber was für Deutschland gilt,

gilt nicht unbedingt für Frankreich, ist dabei wichtig.

Frankreich hat einfach eine wesentlich höhere Geburtenrate,

zum Beispiel als Deutschland.

Warum die Franzosen eben so erboßt sind,

oder der Großteil der Franzosen, 70 Prozent,

so erboßt sind darüber und diese Rentenreform so ablehnen.

Weil die Regierung,

mit Premierministerlerin Elisabeth Borne

und dem Präsidenten Emmanuel Macron,

so tut, als ob wir dieses Rentensystem haben

und dass es kaum mehr zu retten.

Und das einzige, was wir jetzt eigentlich tun können,

ist sozusagen den Zauberstab rauszuholen

und der ist eben das Renteneintrittsalter

und dann wedeln wir mal und dann hat sich das Problem erledigt.

Und da sagen eben viele, also Moment mal,

das Rentensystem ist doch ein bisschen komplexer,

als eben nur an dieser einen Schraube Renteneintrittsalter zu drehen.

Wir haben die Höhe der Rentenbeiträge.

Wir haben auch die Möglichkeit,

das Rentenniveau insgesamt zu senken.

Ja, also wenn ein Großteil der Bevölkerung damit okay ist,

dass sie eine geringere Rente hat

und dafür aber mehr Freizeit,

dann kann man das ja zum Beispiel auch.

Okay, also Rente mit 64 klingt so,

ist es aber dann im Endeffekt ganz oft nicht

und die Menschen sind massiv unzufrieden mit diesem Entwurf.

Jetzt hast du eben schon gesagt

und sie sind anscheinend echt wütend

auf den Präsidenten, auf Emmanuel Macron.

Da gibt es ja anscheinend eine echt schlechte Stimmung,

du hast das da erlebt.

Was sagen die Leute und warum ist das so?

Wie unbeliebt ist da eigentlich und warum?

Emmanuel Macron ist ja am Anfang,

als er das erste Mal gewählt wurde, 2017 war das,

ist er ja so als der große Pro-Europäer in Europa gefeiert worden,

als jemand mit Charisma, ein intelligenter Mensch,

der Visionen hatte für diesen Kontinent.

Und von dieser Stimmung des Anfangs

ist eigentlich überhaupt nichts mehr übrig geblieben.

Das, was jetzt an ihm für ein Image haftet,

ist das das, ich hab da eben Leute singen hören,

wie sie gesungen haben, Macron, Präsident,

des Patrons, Macron, der Präsident der Bosse,

der Präsident der Banker, der Präsident der Reichen.

Und ein Spitzname von ihm ist Jupiter,

also der römische Gott, der über allem schwebt

und der endlich mal auf Erden sich niederlassen sollte

und den Leuten hier vor Ort zuhören sollte.

Es gibt also eine wirkliche Ablehnung

gegenüber diesen Präsidenten.

Und wenn ich mit Menschen auf der Straße spreche

und sie danach frage, ob sie dann den Eindruck haben,

dass ihnen die Regierung zuhört,

dann ist das ein fürchterliches Bild.

Also dann wird dir gesagt,

also am Anfang wird eigentlich gar nichts gesagt,

sondern es wird nur gelacht.

Nein, nicht wirklich, nein.

Das ist was, was wir gesagt haben,

und nach dem Lachen sagt man dir,

Hoffnung in dieses politische System

habe ich überhaupt keine, in die Regierung sowieso nicht.

Das, was hinter dieser Mobilisierung bei der Rente steht,

ist viel mehr als die Rente,

sondern es geht um eine handfeste Politik

und Demokratiekrise, die Frankreich erlebt.

Also man merkt, es geht gar nicht nur um diese Rentenreform.

Es gibt eine ganz, ganz große Unzufriedenheit,

Politikverdrossenheit, sagt man ja auch manchmal,

ich würde sagen, so wie du das erzählt, ist es mehr Wut.

Wut ist wirklich ein sehr gutes Wort,

weil ich in Frankreich spricht man von Rallböl.

Also Rallböl bedeutet einfach nur schnauzevoll haben.

Also jetzt, wenn wir die Rentenreform uns anschauen,

da war es ja so, dass wir in den vergangenen Wochen

ein wirklich unwürdiges Schauspiel des Parlamentarismus

in Frankreich erlebt haben.

Also die Regierung, die eher zentristisch ist,

hat sich unfassbare Wortgefechte geliefert

mit der linken Opposition, mit dem linksbündnis Nupès,

wie das heißt.

Da wurde sich gegenseitig an den Kopf geworfen,

dass jemand doch, Entschuldigung, aber das sind wirkliche Ausdrücke,

die dort gefallen sind, dass sie doch das Maul halten sollen.

Dass man, also der Arbeitsminister hat gefragt,

ob man seinen Kopf haben möchte, also angelehnt

an die französische Revolution.

Und dieses Gesetzesvorhaben wurde dann aus der Nationalversammlung,

da wurde gar nicht drüber abgestimmt, was als eine riesige Schlappe

des Parlamentarismus empfunden wurde.

Und in Frankreich gibt es einen Senat.

Da können wir uns in Deutschland eigentlich nicht so richtig

runter vorstellen, wofür der eigentlich zuständig ist.

Die meisten Franzosen verstehen es auch nicht.

Jedenfalls in diesem Senat wurde das Paket der Rentenreform eingebracht.

Und das wurde in der vergangenen Woche, wurde das verabschiedet.

Dann soll es jetzt eben so eine paritätisch besetzte Kommission geben

aus sieben Mitgliedern der Nationalversammlung

und sieben Mitgliedern des Senats.

Und die sollen einen Gesetzestext dann gemeinsam verabschieden

und dann sehr schnell soll diese Rentenreform eigentlich durchgesetzt werden,

so verabschiedet werden.

Es ist aber nicht so richtig klar, ob es eine Mehrheit dafür

in der französischen Nationalversammlung gibt,

also im französischen Parlament, also dieses Gesetzespaket,

das dann diese Kommission ausarbeitet,

muss immer noch in der Nationalversammlung verabschiedet werden.

Und was viele in Deutschland vielleicht nicht so ganz bewusst ist,

ist, dass seit dem vergangenen Jahr die Majorität präsidentsiell,

also die Menschen, die Macron nahestehen im Parlament,

zwar eine Regierung gebildet haben,

aber in einer Minderheitsregierung sind.

Und in dieser Majorität präsidentsiell gibt es immer mehr Leute,

die sich wohl nicht mehr trauen, dieses Gesetzespaket zu verabschieden

bzw. ihre Stimme dazu zu geben.

Deswegen ist immer fraglich,

bekommt dieses Gesetz diese Rentenreform überhaupt eine Mehrheit im Parlament?

Wenn das nicht der Fall ist,

gibt es aber eine andere Möglichkeit im französischen Parlament

bzw. für die Regierung,

dann gibt es so einen sogenannten Joker,

und das wäre ein Paragraf 49.3, heißt der Garant Nöftrohr.

Was ist da drin?

Ich bin normalerweise nicht so ein Paragraf mit Alter,

und ich hoffe auch, dass jetzt nicht die meisten denken,

oh mein Gott, jetzt redet er über 49.3.

Wie langweilig ist das denn?

Aber es ist wirklich spannend.

Wenn man sich kurz drauf einlässt,

bei uns im Bundestag wäre es ja so,

wenn ein Gesetz keine Mehrheit findet, dann wird es auch nicht verabschiedet.

In Frankreich ist es so,

weil das französische System sehr auf Effizienz ausgerichtet ist,

man möchte eben nicht so eine Kompromisskultur,

wie man sie in Deutschland hat,

kann die Regierung sagen, ok, wir stellen dieses Gesetzespaket euch hin

und wenn ihr keinen Misstrauensantrag gegen unsere Regierung stellt,

der eine Mehrheit findet, dann wird dieses Paket angenommen.

Ok, also wer regiert, der kann auch erstmal durchregieren.

Wenn es so kommen sollte, dass dieser 49.3-Paragraf gezogen wird,

also dass die französische Regierung keine Mehrheit für ihre Rentenreform

im Parlament findet und dann eben sagt,

gut, wir ziehen diesen Joker und das Gesetzespaket wird trotzdem angenommen.

Würde ich meinen, wird das zu unfassbar großen Demonstrationen

noch größer als wir sie bisher erlebt haben führen.

Wir hatten ja am 7. März schon 3,5 Millionen Menschen

auf der Straße laut der Gewerkschaften, laut Innenministerium waren es 1,3 Millionen.

Ich würde vermuten, dass diese Zahlen nochmal höher ausfällt

und was ich befürchte ist, dass es noch zu mehr Gewaltausschreitungen

auf der Straße kommt.

Das Problem ist nur, was will Emmanuel Macron machen, um dem entgegenzusetzen.

Er hat eigentlich keine Möglichkeit, noch weiter auf die Demonstrierenden,

noch weiter auf diejenigen dieses Gesetzespaket ablehnen zuzugehen.

Denn wie ich vorhin gesagt habe, er ist in seinen Wahlkampf gegangen

mit zwei Versprechen. Wenn er jetzt das größte Versprechen,

die Mutter aller Reformen, wie er es selbst genannt hat, auch noch kassiert,

dann ist seine Präsidentschaft eigentlich obsolet geworden.

Wie geht es denn weiter mit den Streiks und den Protesten in Frankreich jetzt?

Wir haben in Frankreich inzwischen sieben große so genannte Mobilisierungstage erlebt,

an denen eben Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen, auf die Straße gegangen sind.

Am siebten März, also der Dienstag der vergangenen Woche,

war das eben das erste Mal kombiniert mit einem großen Generalstreik,

der dann auch die Tage danach im sehr große Auswirkungen hatte.

Am Samstag gab es eine weitere große Demonstration

und die Demonstrierenden, die diese Reform ablehnen, die Gewerkschaften,

die machen jetzt nicht unbedingt den Eindruck, dass sie sich weiterhin zufrieden geben,

sondern die wollen diesen Präsidenten Macron wirklich stoppen.

Und sie haben für den 15. März, also für Mittwoch dieser Woche,

haben sie angekündigt, den nächsten großen Mobilisierungstag mit einem Streik zu verbinden.

Und es wirkt eben weiterhin so, als würden da zwei Züge aufeinander zurasen,

weil Macron hat eigentlich keine Möglichkeit zurückzustecken,

weil es meiner Meinung nach, und nicht nur meiner bescheiden Meinung nach, sondern der vieler,

es für ihn eigentlich bedeuten würde, dass seine Präsidentschaft vorbei ist,

in dem Moment, in dem er sagt, wir machen doch keine Rente mit 64.

Und auf der anderen Seite können die Gewerkschaften aber auch nicht zurückstecken,

weil sie die Leute schon so oben auf dem Baum haben,

dass es ganz schwer wird für sie jetzt die auch noch wieder runterzuholen.

Insofern, ich sehe eigentlich tatsächlich nicht, wie das gerade ausgehen könnte.

Also ich fürchte, dass es wie damals bei den gelbwesten Bewegungen,

in Jahr 19, 22, dazu kommen wird, dass es Ausschreitungen geben wird,

dass es zu Gewalt von Polizei und von Demonstrierenden kommt.

Und wer dann am Ende den längeren Hebel hat, das ist die große Frage,

aber so ist momentan die Situation.

Und normalerweise, wenn alles seinen geregelten Gang geht,

dann haben die Franzosen spätestens bis Ende des Monats eben diese Rente verabschiedet.

Aber der Demokratie-Schaden, der ist noch nicht zu beziffern,

aber ich denke, er wird enorm sein.

Jean, danke dir.

Danke dir.

Das war unsere Folge zum französischen Generalstreik

hier bei 11km der Tagesschau-Podcast.

Jean-Marie Magro ist Politikjournalist beim BR,

wo er trotz streikendem Zugverkehr mittlerweile wieder angekommen ist.

Wenn ihr noch mehr wissen wollt, empfehle ich euch,

dass Dosierpolitik, an dem Jean-Marie Magro mitgearbeitet hat,

den Link findet ihr in den Shownotes.

Uns findet ihr in der AED-Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt.

Gebt uns gerne eine Sterne-Bewertung oder abonniert uns auf der Plattform Eurer Wahl.

Auch zu der Folge ist Sandro Schröder.

Mitgearbeitet hat Jasmin Brock.

Produktion Konrad Winkler, Florian Teichmann,

Ruth Maria Ostermann, Alexander Gerhardt und Eva Erhardt.

Redaktionsleitung Lena Gürtler und Fumiko Lipp.

11km ist eine Produktion von BR24 und NDR Info.

Mein Name ist Victoria Michalsack.

Wir hören uns morgen wieder.

Ciao!

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“Travailler” - das französische Wort für “arbeiten” leitet sich ursprünglich von “sich Leid zufügen” ab. Wohl einer der vielen Gründe, warum Millionen Franzosen und Französinnen gegen längeres Arbeiten, gegen eine Heraufsetzung des Rentenalters gerade protestieren. Der Senat hat der Rentenreform in der Nacht auf Sonntag zugestimmt und am Mittwoch geht der Generalstreik in die nächste Runde. Aber: Die Demonstrant:innen sind auch über die geplante Rentenreform hinaus extrem unzufrieden mit der Regierung. In dieser Folge von 11KM sind wir mit BR-Reporter Jean-Marie Magro auf den Straßen von Paris unterwegs beim Generalstreik.



Eine ausführliche Analyse zur Lage in Frankreich findet ihr beim Dossier Politik vom BR, in dem auch Jean-Marie Magro zu hören ist:

https://www.br.de/mediathek/podcast/dossier-politik/frankreich-in-aufruhr-was-treibt-die-menschen-zu-tausenden-auf-die-strassen/1951447

Mehr zu den aktuellen Entwicklungen in Frankreich gibt es hier bei der tagesschau: https://www.tagesschau.de/thema/frankreich/



An dieser Folge waren beteiligt:

Autor: Sandro Schroeder

Mitarbeit: Jasmin Brock

Produktion: Florian Teichmann, Konrad Winkler, Eva Erhard und Ruth-Maria Ostermann

Redaktionsleitung: Fumiko Lipp und Lena Gürtler

Host: Victoria Michaczak

11KM: der tagesschau-Podcast wird produziert von BR24 und NDR Info. Die redaktionelle Verantwortung für diese Folge liegt beim NDR.