NZZ Akzent: Unterwegs bei den Gangs in Chicago

NZZ – täglich ein Stück Welt NZZ – täglich ein Stück Welt 9/4/23 - Episode Page - 18m - PDF Transcript

Dieser Podcast wird ihn präsentiert von der LGT, ihrer Privatbank in der Schweiz.

NZZ accent.

Da wird's, wo bist du denn da unterwegs?

Ich sitze hier im Auto und fahre durch Chicago, durch ein Quartier namens South Austin, genau gesagt.

Neben mir sitzt Boony. Boony ist ein Afroamerikaner, grau et redlocks, 63 Jahre alt, total netter Typ eigentlich.

Aber er ist ein Ex-Gang-Mickli, der war lange in einer Gang und er zeigt mir hier nun seinen Viertel.

Und was zeigt dir das oder was siehst du da so?

Ja, das ist eigentlich ziemlich deprimierend, also wenn man da tagsüber unterwegs ist, da trifft man kaum Leute auf den Straßen.

Es geht nur raus, wer unbedingt muss.

Wohnhäuser und Läden sind zum großen Teil mit Brettern verrammelt, heruntergekommen, oft leer stehend, Grafitis verschmiert.

Die einzigen, die man so auf den Straßen sieht, sind Jugendliche, die sitzen da auf Campingstühlen, verkaufen Gras oder auch Herteres.

Ja, das ist South Austin, eines der gefährlichsten Quartiere von Chicago und sind die Gangs, die hier das Sagen haben.

Und in diesem Quartier von Chicago will Ex-Gang mit Glitt Boony Jugendliche auf den richtigen Weg bringen.

USA-Korrespondent David Siegner war mit ihm unterwegs.

Ich bin Sebastian Panholzer.

David, du sagst, du fährst dort mit Boony durch die Straßen, Boony.

Was ist das für ein Name, ist das ein Spitzname, oder heißt der wirklich so?

Das ist ein Spitzname, in Wirklichkeit heißt der Clifton Mac Fowler, aber alle hier nennen ihn Boony.

Und warum bist du mit ihm unterwegs?

Ich wohne auch in Chicago, aber nicht in South Austin.

Das ist Boony's Hut, der ist hier aufgewachsen und kennt sich in dem Viertel aus.

Ich habe jemanden gesucht, der genau das mit mir macht, der diese Bekehren gegen den Hut kennt und mir das zeigt, wie das läuft hier.

Was zeigt er dir?

South Austin liegt an der Westzeit von Chicago, gehört zum größeren Stadtteil Austin, der von etwa 100.000 Leuten bewohnt ist.

Das Viertel ist v.a. afroamerikanisch und Latino dominiert, arm.

Ein Viertel sind offiziell arbeitslos, de facto wahrscheinlich mehr.

Alle erzählen, wie das Quartier in den 70er Jahren noch wohlhabend war, durchmischt, aber dann ging es bergab.

Die Drogen kamen, Crack, Prostitution, Kriminalität und eben die Gangs.

Und Boony, was macht er dort?

Boony war selber lange in einer Gang und jetzt versucht er eigentlich wieder gut zu machen,

was er damals angerichtet hat.

Er versucht vor allem den Jungen zu helfen, damit sie nicht den gleichen Weg gehen wie er.

Auf Englisch sagt er, er will die Hood wieder zu einer Neighborhood machen.

Wie ist denn Boony in eine Gang gekommen? Wie ist das passiert?

Boony ist in den 60er Jahren hier geboren worden.

Er ist aufgewachsen, praktisch an derselben Straße, wo er heute noch wohnt.

Er hatte eine schwierige Kindheit.

Nach seiner eigenen Aussage war die Mutter Schizophren, Alkoholikerin.

Der Vater war die meiste Zeit im Gefängnis.

Boony selber nahm mit 13 schon alle möglichen Drogen.

Er sagt, schon damals ging er nie ohne Waffe und kugelt sich Reveste aus dem Haus.

Mit 13? Ja.

Er kümmerte sich im Prinzip um die Familie, um mit 13, weil die Eltern ausfielen.

Er passte auf, dass ein kleinerer Bruder zur Schule ging.

Und er verdiente im Prinzip das Geld, um die Familie durchzubringen.

Also es ist ganz schön heftig für einen Teenager, für einen Jugendlichen.

Auch schwierig, Geld zu verdienen mit dem Alter.

Wie macht er das damals?

Geld verdienen, das klingt so schön.

Sein Job war weiße Freier, der prostituiert, aus dem Quartier auszurauben.

Er landete dann auch immer mal wie ihrem Jugendknast.

Irgendwann gründete er mit Freunden zusammen eine eigene Gang.

Er war der sogenannte Print, also die Nummer 2, nach dem Boss.

Und die Gang nannte sich Cicero Undertaker Wise Lords.

Die war benannt nach einem Bestattungsunternehmen.

Als Initiationsritual musste man da nachts eine Scheibe einschlagen

und sich die Leichen in dem Institut anschauen.

Okay, sehr speziell.

Also Boony nimmt als Teenager schon Drogen.

Er raubt Leute aus, er gründet eine eigene Gang.

Und dann, was passiert dann? Wie geht es bei ihm weiter?

Ja, und dann war er 22 und es passierte etwas, das sein Leben veränderte.

Er begann nämlich einen Doppelmord.

Als ich ihn fragte, was da genau passiert war,

sagte er, es war eine Drogengeschichte

und ich kannte die Männer nicht einmal dich erschoss.

Auf jeden Fall, er wurde verurteilt,

und zwar heftig, 27 Jahre Gefängnis, davon fünf Jahre in Einzelhaft.

Und dann, wann kam er wieder raus auf Reinfuss?

Ja, da war er dann schon fast 50, das war 2009.

Kurz darauf wurde er heroinsüchtig.

Er schaffte dann aber den Entzug relativ rasch.

Und das war dann so der Scheideweg für ihn.

Da entschied er sich, nein, ich habe so viel Scheiß angerichtet in meinem Leben.

Ich muss das jetzt wieder gut machen.

Wir sind gleich zurück.

In einem turbulenten Marktumfeld brauchen Anleger

einen verlässlichen und vertrauenswürdigen Partner.

Die langfristige Ausrichtung von LGT Private Banking

gibt ihn Stabilität und Sicherheit.

Mehr erfahren sie unter www.LGT.com

Okay, David, also du sagst,

Buni hat so viel Scheiß in seinem Leben angerichtet.

Er will es wieder gut machen.

Wie macht er das denn?

Er sieht auf Schritt und Schritt in diesem deprimierenden Quartier,

was er eigentlich getan hat.

Und was jetzt aus dem einmal schönen Quartier in den letzten 40 Jahren geworden ist

und dass er da Anteil hat.

Also dass es kein wohlhabendes Quartier mehr ist,

sondern dass es ein armes von Gangs dominiertes Quartier ist?

Genau, es gibt beispielsweise kaum noch Läden,

weil, ich meine, wer will in so einem Quartier eine Laden eröffnen?

Die werden nach kurzer Zeit ausgeraubt, die gehen weg

und das ist alles Teil dieser Abwärtsspirale.

Und er will das wieder gut machen,

vor allem indem er versucht, die Jungen davon abzuhalten, in Gangs einzutreten.

Die es immer noch gibt, so wie in den 70er Jahren,

auch wenn sie sich etwas verändert haben.

Inwiefern?

Damals waren die Gangs größer, sie waren besser organisiert,

sie hatten klare Hierarchien, also so wie man das auch ein bisschen aus den Filmen kennt, oder?

Diese Art Gangs, die existieren nicht mehr,

die wurden von der Polizei zerschlagen.

Das Resultat ist, dass es immer noch Gangs gibt, wahrscheinlich sogar mehr als früher,

aber das sind mehr so Klicken, wie sie das nennen.

Also kleinere Gruppen stelle ich mir dann?

Genau, keine Arbeitsteilung, manchmal wissen die Leute nicht einmal genau,

wer da eigentlich dabei ist, aber es sind immer noch,

schätzungsweise ein Drittel der Jugendlichen in Gangs,

in solchen Quartieren wie in South Austin.

Die Tendenz ist auch, dass die Leute immer früher in die Gangs eintreten,

also schon so ab zehn Jahren, und auch immer mehr Mädchen oder junge Frauen sind da dabei.

Und es gibt immer mehr Waffen, das war früher offenbar auch nicht so.

Also in so Quartieren wie in Austin gibt es praktisch jeden Tag Schießereien.

Tatsächlich kennen viele von den Jungen, die dort aufwachsen,

kaum andere Jobs als Dealer und Polizisten, die meinen, das ist die Welt.

Du hast immer vorhin gesagt, Buni versucht, dass Jugendliche erst gar nicht in solche Gangs kommen.

Wie machte das?

Er arbeitet für eine Organisation, die Bild heißt.

Die arbeiten einerseits so interventionistisch, also wenn es irgendwo Probleme gibt,

die zu eskalieren drohen, dann gehen sie da rein und reden mit den Leuten.

Und das können sie, weil sie aus dem Quartier kommen, weil sie die Szene kennen,

die Sprache sprechen, die wissen sofort, worum es geht, anders als eben die Polizei.

Und die Leute hören eben auch auf solche Leute wie Buni, weil die halt Street Credibility haben.

Die gehören zu ihnen, oder?

Diese Organisationen, die machen auch ganz konkrete Sachen, also wie die bieten Sport an,

die haben Sportplätze, Mannschaften, die helfen den Leuten bei Ausbildung,

Freizeitaktivitäten.

Also auch Beschäftigung vor allem?

Ja, ja, das ist sehr wichtig.

Oder Beratung, wenn einer verhaftet wird, Anwälte organisieren, solche Sachen.

So hilft eben ja auch Buni dann eben die Jugendlichen sozusagen auf den richtigen Weg zu bringen,

dass sie eben nicht kriminell werden.

Du bist ja mit ihm unterwegs, noch in Chicago.

Wo seid ihr denn da gerade?

Ja, also das war eine lustige Szene.

Jemand hat Buni angerufen und gesagt, hey, meine Wohnung ist abgebrannt.

Ich brauche neue Möbel, ich kann nicht mehr schlafen.

Kannst du mir nicht helfen, Möbel anzugreifen?

Okay.

Und dann hat Buni wasch rumtelefoniert, er hat ja ein riesiges Kontaktnetz.

Und dann hat er tatsächlich jemanden gefunden, der gerade auszieht

und ich weiß, wo er mit seinen Möbeln hin soll.

Und dann sind wir jetzt in diese ziemlich heruntergekommene Wohnung gefahren

mit den alten Möbeln.

Und er hat irgendwie dann auch jemanden organisiert

mit einem Pickup, der die dann transportiert hat.

Also, der macht auch sehr viel solche Sachen.

Sein Telefon klingelt permanent.

Und wenn man mit ihm rum geht da und wird ja angehauen wegen irgendeinem Problem.

Also, ihn kennt auch jeder?

Jeder kennt ihn.

Und ich meine, es ist irgendwann so am Rande des Nervenzusammenbruchs.

Er ist eigentlich immer überfordert und hat 100 Probleme.

Aber er nimmt sich für alle Zeit.

Da merkt man schon, er hat wirklich eine Schuld abzutragen.

Und er arbeitet bis zur Erschöpfung.

Ja, wir liefen dann schließlich zu seinem Haus.

Und dort hat er einen Gemüsegarten eingerichtet.

Also, die Kinder und Jugendlichen nach der Schule kommen die dorthin

und ziehen Lauch und Karotten.

Er sagt, das ist eben so ein Safe Space.

Auch die Dealer respektieren das.

Für die Kinder dort ist das was ganz Spezielles.

Also, Gemüse ziehen.

Da gibt es ja kaum Läden.

Die wissen überhaupt nicht, woher das Gemüse herkommt.

Also, Buni, zu dir wirklich, wie du erzählst,

alles Mögliche, um Jugendlichen und Kindern zu helfen.

Aber jetzt, mehr ehrlich, nützt es auch wirklich was,

was Buni da macht?

Ja, ja, das klingt so unspektakulär.

Aber ich glaube tatsächlich,

diese kleine unspektakuläre Arbeit, das ist das, was wirklich hilft.

Das ist auch wissenschaftlich erwiesen.

Also, das sagen Kriminalogen, das zeigen Forschungen.

Das dauert zwar.

Aber ich meine diese ganzen klassischen Polizei-Methoden

tough on crime, war on drugs.

Also, dass sehr, sehr strenge vorgehen, meinst du.

Genau, dass repressive, brutal reinfahren, verhaften, lange Haftstrafen.

Das hat sich einfach nicht bewährt.

Kein Land hat prozentual so viele inhaftierte wie die USA.

Das ist einfach keine nachhaltige Lösung.

Vor allem, wenn du schwarz bist, du kannst wegen bisschen Gras.

Kannst du lange im Gefängnis landen.

Und nirgendwo lernt man Kriminalität besser als im Gefängnis.

Also, das kontraproduktiv.

Und die Polizei ist natürlich verhasst.

Die treibt die Leute oft erst recht in die Kriminalität.

Woran liegt es denn, dass auch heute immer noch so viele Gangs

in dieser Gegend existieren

und dass die Jugendlichen sogar auch immer jünger werden?

Also, Leute wie Booni Betroffene, die sagen eigentlich dasselbe wie die Experten.

Es liegt natürlich am Elternhaus.

Eben sehr oft waren da schon die Eltern kriminell, in Gangs, drogensüchtig.

Also, das sind sicher auch Traumata, die über Generationen weitergegeben werden.

Junge, die haben null Frustrationstoleranz.

Die greifen wegen nichts zur Waffe.

Die haben überhaupt nicht gelernt mit Konflikten und Aggressionen umzugehen.

Also, spielt das Elternhaus sicher eine wichtige Rolle.

Aber dann auch das Quartier.

Ich meine, es gibt kaum Jobs.

Die Schulen sind schlecht.

Das Gesundheitswesen ist schlecht.

Kein Geld, weil auch keine Steuerzahler da sind.

Es gibt kaum Möglichkeiten, sich gesund zu ernähren.

Dafür findet man Drogen und Waffen.

Eine Knarre findest du wahrscheinlich leichter als eine Gurke in das Haus aus.

Und dann, was ich auch interessant finde, ich meine diese Gangs, das sind ja keine Rebellen.

Die wollen die Gesellschaft nicht umgestalten.

Im Gegenteil, die haben ein Interesse, das alles genauso beschissen bleibt wie sie es ist.

Die profitieren vom Status quo.

Dann konsumieren die Leute Drogen.

Das Elend ist gut fürs Business.

Die sind auch extrem Geldfokussiert natürlich.

Das sind ja keine Antikapitalisten.

Das ist eher so America on steroids, eine Karikatur der Gesellschaft.

Komm, noch mal zurück zu Puni.

Du bist ja mit ihm unterwegs und gerade vor seinem Haus angekommen.

Ja, er kam bei seinem Haus an und das war wirklich berührend.

Dann stürmt seine Enkelin auf ihn zu und umarmt so seine Beine.

Und dann sagt er zu mir, siehst du, für genau all diese Babys mach ich den ganzen Scheiß.

Lieber David, vielen lieben Dank für deine Geschichte aus Chicago.

Und dass du dieses Mal sogar einmal bei uns live im Studio dabei warst.

Danke dir.

Sehr gern geschehen.

Das war unser Akzent.

Produzent in dieser Folge ist Alice Couchon.

Ich bin Sebastian Panholzer.

Bis bald.

Copyright WDR 2021

Machine-generated transcript that may contain inaccuracies.

Schiessereien sind in South Austin an der Tagesordnung, Waffen und Drogen einfacher erhältlich als frisches Gemüse. Ex-Gangmitglieder versuchen nun, Jugendliche weg von den Gangs und auf den richtigen Weg zu bringen.

Heutiger Gast: David Signer, USA-Korrespondent

Host: Sebastian Panholzer

Produzentin: Alice Grosjean

Weitere Informationen zum Thema: https://www.nzz.ch/gesellschaft/gangs-in-chicago-ld.1741152

Hörerinnen und Hörer von «NZZ Akzent» lesen die NZZ online oder in gedruckter Form drei Monate lang zum Preis von einem Monat. Zum Angebot: nzz.ch/akzentabo