Sternstunde Philosophie: Miranda Fricker – Wissen und Macht

Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) 7/1/23 - 1h 0m - PDF Transcript

Es gibt Diskriminierungen, die sind offensichtlich, etwa wenn jemand aufgrund seines fremdklingenden

Namens nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen wird.

Es gibt aber auch Diskriminierungen, die entdecken wir erst, wenn wir ganz genau über das Verhältnis

von Wissen und Macht nachdenken.

Die weltbekannte Philosophin Miranda Frickert tut dies seit vielen Jahren äußerst kreativ

und erfolgreich und wendet ihr Wissen auch auf die Frage an, wieso eine Entschuldigung

zur rechten Zeit eine Beziehung retten kann.

Ja, Miranda Frickert, herzlich willkommen, ich freue mich sehr, dass Sie zu uns gekommen

sind.

Vielen Dank für die Einladung.

Ja, Sie sind eine der bekanntesten Philosophinnen unserer Zeit, das kann man wohl sagen, Sie

haben eine Professur an der New York University und wenn man jetzt so wie sie so ganz genau nachdenkt

über das Verhältnis von Sprache und Macht, ist es dann auch so, dass man selbst beginnt,

jedes Wort auf die Goldwaage zu legen?

Ich hoffe es.

Natürlich treten wir alle mal in ein Fettnäpfchen.

Aber meine Arbeit am Thema epistemische Ungerechtigkeit hat mir die Vorurteile bewusster gemacht, die

ich mit allen um mich herum teile.

Wenn wir einander zuhören, wird uns klar, dass unsere Vorurteile zu verschiedenen Fehl-Einschätzungen

führen können.

Deshalb gebe ich mir Mühe, wir alle versuchen unser Bestes.

Ja, das ist ja nicht selbstverständlich, es gibt ja auch Philosophen und Philosophinnen,

die tun irgendetwas an der Universität und es hat wenig zu tun mit ihrem eigenen Leben,

aber bei ihnen ist der Zusammenhang sehr offensichtlich, auch wie sehr ihre Theorie eingreift ins Leben und

darüber wollen wir heute sprechen.

Dieses Buch Epistemische Ungerechtigkeit ist bereits 2007 erschienen, es ist ein bahnbrechendes

Buch geworden in der Philosophie, es ist ein Klassiker heute, aber erst jetzt ist es auf

Deutsch übersetzt worden und ich habe schon gesagt, es schließt eigentlich eine Lücke

in der Gerechtigkeitsdebatte, weil sie nämlich sagen, es gibt eine bestimmte Form von Ungerechtigkeit,

die wir bis anhin übersehen haben und da geht es beispielsweise um den Zugang zu Wissen.

Mögen Sie vielleicht mal beginnen, damit zu erklären, was Sie damit genau meinen?

Gerne.

Bei der Arbeit an meinem Buch spürte ich eine bestimmte Offenheit für die Idee, dass nicht

alle den gleichen Zugang zu Wissen haben, dass also eine Verteilungsungerechtigkeit herrscht.

Epistemische Güter, die mit Wissen, Bildung, Information oder Zugang zu Experten zu tun

haben, eine Rechtsberatung etwa, stehen nicht allen gleichermaßen zur Verfügung.

Das ist ein Beispiel, Mädchen, die ausgeschlossen werden von Bildung oder von Schule.

Genau.

Oder wenn einem das Geld für eine Rechtsberatung fehlt.

Viele Dimensionen von Macht, sei es Armut, Geschlechthautfarbe, können Menschen daran

hindern Zugang zu epistemischen Gütern, also Bildung, Information, Beratung zu erhalten.

Diese Idee ist im Bereich der sozialen Gerechtigkeit breit verankert.

Weniger bekannt in der philosophischen Tradition, in der ich ausgebildet wurde, also in der analytischen

oder angloamerikanischen Philosophie, war die Idee einer bestimmten Art von Unrecht,

das daher rührt, dass die Glaubwürdigkeit ihres Wortes durch Vorurteile herabgesetzt wird.

Ich füge Ihnen als Wissende, als epistemisches Subjekt, eine besondere Art von Unrecht zu.

Ich versuchte, diese Idee in eine Theorie zu gießen und herauszufinden, welche Art Unrecht ich ihnen tue.

Und ich denke, wir kennen alle solche Beispiele aus dem Alltag.

Nehmen wir eine Person, die Zug fährt, sie ist schwarz, es kommt der Kontrolleur, die Person hat kein Ticket

und sagt, ich habe den Geldbeutel zu Hause vergessen, dann ist es so, dass man dieser Person weniger glauben wird aufgrund ihrer Hautfarbe.

Das ist zum Beispiel ein Beispiel für Ihre Theorie.

Ja, absolut. Erst kürzlich gab es im britischen Fernsehen, im Nachrichtenprogramm eine Podiumsdiskussion,

bei der sowohl weiße als auch schwarze Teilnehmende diskutierten.

Ein schwarzer Chess Musiker erwähnte ein Beispiel von allgemeinen Vorurteilen gegenüber Menschen anderer Hautfarbe,

also nicht spezifisch von testimonialer Ungerechtigkeit.

Und sagte, gerade heute saß ich in einem ersten Klassewagen im Zug

und ein weißer Fahrgast sagte zu mir, haben Sie Ihr Ticket?

Alle weißen Leute im Studio reagierten mit völligem Unglauben

und alle Schwarzen sagten, ja, so etwas passiert andauend.

Jetzt haben Sie gerade schon den Begriff der testimonialen Ungerechtigkeit benutzt, also Zeugnisungerechtigkeit.

Das ist ein Teil dieser epistemischen Ungerechtigkeit.

Vielleicht müssen wir das noch erklären, epistemisch bezieht sich auf den Begriff der Episteme, griechisch für Wissen.

Und diese testimoniale Ungerechtigkeit ist eben sozusagen ein Bein dieser Theorie.

Jetzt, um das noch besser zu verstehen, steigen wir doch noch ein mit einem Beispiel,

was Sie sehr detailliert verwenden in Ihrem Buch.

Und zwar geht es da um den Krimi von Patricia Heismis, der talentierte Mr. Ripley,

um die Verfilmung von Anthony Minghella, wir erinnern uns alle mit dem Matt Damon in der Hauptrolle.

Ripley ist ein Empor-Kömmling, er möchte gerne zu den Reichen und Schönen gehören

und er beseitigt alle und alles, die ihm irgendwie im Weg stehen.

Er tötet auch Dickey, ein Sohn aus gutem Hause, um in dessen Identität zu schlüpfen.

Und March, seine Verlobte, wir sehen übrigens die drei in einem Bild aus dem Film,

auf der rechten Seite den Schwiegervater, links Mr. Ripley und in der Mitte eben March.

Und da gibt es eine Schlüssel-Szene, um die es Ihnen geht, nämlich March wendet sich an ihren Schwiegervater

und sagt, ich denke, das war Ripley, der Mörder ist Ripley.

Und dann sagt der Schwiegervater, und das ist die Szene,

March, es gibt weibliche Intuition und es gibt Fakten.

Warum ist das Beispiel für Sie so wichtig und was zeigt es?

Nun, es ist ein ziemlich komplexes Beispiel.

Die Männer um March herum sind ja zugetan und wohlwollend, aber sie hegen Vorurteile gegenüber Frauen.

Dies wird vom kriminellen Ripley, der Dickey Greenleaf, tatsächlich umgebracht hat, ausgenutzt.

Um ihre Glaubwürdigkeit herabzusetzen, versucht er ganz bewusst unter den anderen Männern,

das Vorurteil zu wecken, wonach March als Frau ein bisschen hysterisch und emotional sei

und nicht wirklich vernünftig denke.

Obwohl sie mit March mitfühlen, denken sie, die arme March, sie verliert den Verstand, sie ist völlig emotional.

Der Fall scheint mir komplex, denn gemäß meiner Theorie, und man mag mir widersprechen,

tut Ripley March nicht als Zeugin unrecht.

Er weiß, dass sie es weiß.

Er missachtet sie nicht als Wissende.

Er tut ihr viele andere schlimme Dinge an, weil er versucht, andere dazu zu bringen, ihr nicht zu glauben.

Zeugnis, Ungerechtigkeit, widerfährt ihr durch Greenleaf Senior und die anderen männlichen Figuren,

die es zulassen, dass March's Glaubwürdigkeit durch Vorurteile herabgesetzt wird, obwohl sie Beweise vorliegt.

Etwa, wenn sie erwähnt, dass Ripley Dickies Ringe auf sich trug.

Aber die anderen sind blind dafür, wegen ihrer Vorurteile.

Mir ging es darum, eine bestimmte Art von Unrecht herauszuarbeiten, dass sich von Ripleys Vergehen ihr gegenüber unterscheidet,

wozu aber nicht gehört, dass er sie als Wissende unterschätzt.

Er begeht also keine Zeugnis, Ungerechtigkeit.

Und was ich so großartig finde im Beispiel ist, dass es die zwei Probleme aufdeckt,

die mit dieser spezifischen Form von Zeugnis, Ungerechtigkeit einhergehen.

Denn auf der einen Seite wird March unrecht getan.

Man sagt ja, du bist einfach hysterisch, du bist emotional und so weiter.

Und der Mord wird nicht aufgedeckt.

Also das heißt, wir haben ein Problem auf der Ebene der Ethik

und ein Problem auf der Ebene der sozusagen des Zugangs zur Wahrheit.

Und das ist genau ihre Theorie, dass diese beiden Dinge vereint werden.

Ganz genau, danke.

Einerseits geschieht March in ihrer persönlichen Beziehung zu anderen Personen unrecht.

Andererseits werden aber auch der Gesellschaft Informationen

und wichtiges Wissen vorenthalten, was diese schädigt.

Bei einem Mord hat er die ganze Gesellschaft ein Interesse daran,

dass die Wahrheit ans Licht kommt.

Es ist bezeichnend für die Zeugnisungerechtigkeit,

dass sowohl eine Person wie auch die Gesellschaft geschädigt werden,

weil Vorurteile zu einem Glaubwürdigkeitdefizit führen,

dass den gesamten Informations- und Beweisfluss in der Gesellschaft blockiert.

Es handelt sich also um eine enorme epistemische Dysfunktion im Informationsfluss.

Und wenn wir diese Zeugnisungerechtigkeit beseitigen wollen,

also Zeugnis gerecht sind und erst einmal allen Glauben schenken,

dann tun wir zwei Dinge.

Wir haben eine intellektuelle Tugend.

Wir haben eine Interesse daran, die möglichst reichhaltige Wahrheit zu sehen.

Und wir bedienen uns auch einer ethischen Tugend,

nämlich eben alle erst einmal für Glaubwürdig anzusehen.

Nun ist es aber so, dass wir ja alle Vorurteile haben

und ein Stück weit gar nicht anders können.

Nehmen wir mal an, ich bin irgendwo mitten an einem touristischen Hotspot.

Jemand kommt zu mir und erzählt mir,

eine willige Geschichte sei bestohlen worden

und ich soll ihm 100 Franken geben,

dann ist mein Vorurteil ja eigentlich nicht fehl am Platz.

Wenn das, was Sie als Vorurteil bezeichnet haben,

durch Beweise gestützt ist,

spreche ich nicht mehr von einem Vorurteil, sondern von einem Stereotyp.

Aber manchmal sind Stereotype auch belegt,

was nicht bedeutet, dass sie unumstößlich sind.

Aber sie tun dieser Person kein Unrecht,

wenn sie beweisen können,

dass die Person sie wahrscheinlich täuschen oder übervorteilen wollte.

Ich benutze den Begriff Vorurteil im üblichen Sinn

und meine damit Urteile,

die einen Widerstand gegenüber gegenteiligen Beweisen an den Tag legen,

was auf bestimmte Wünsche zurückzuführen ist.

Das kann viele Formen annehmen.

Bei gender-spezifischen Vorurteilen

könnte es Frauenfeindlichkeit sein.

Der Hass auf Frauen befeuert die Herabsetzung ihrer Glaubwürdigkeit.

Das wäre ein sehr einfacher Fall.

Eine andere Art von Vorurteil

ist vielleicht weniger in der sozialen Struktur verortet.

Ein Wissenschaftler hat mir erzählt,

dass viele seiner wissenschaftlichen Experimente

negative Ergebnisse erbrachten.

Die damaligen Wissenschaftsmagazine hielten aber Beweise,

wonach etwas nicht der Fall war, für uninteressant.

Entsprechend wurden sie nicht veröffentlicht.

Für ihn handelte es sich hier um einen Fall von Zeugnis-Ungerechtigkeit.

Besämtliche Forschung ist wertvoll.

Das gennige Vorurteil verhindert aber eine umfassende Veröffentlichung,

was ihre Glaubwürdigkeit untergräbt.

Hier geht es also nicht um Hautfarbe, Klasse oder Geschlecht,

sondern um ein lokal begrenztes Vorurteil

innerhalb einer bestimmten beruflichen Laufbahn.

Was für die Person schlecht ist,

aber keine Querverbindungen zu Anfälligkeiten

für andere soziale Vorurteile aufweist.

Aus diesem Grund war es für mich sehr wichtig,

das, was ich als zufällige oder lokale Fälle

von Zeugnis-Ungerechtigkeit bezeichne,

von systematischen Fällen wie Geschlecht, Hautfarbe, Klasse zu trennen.

Wo das gegen die Person verwendete Vorurteil

sie in vielen anderen Dimensionen sozialer Aktivität einschränkt.

Systematische Zeugnis-Ungerechtigkeit wirkt sich in der Breite aus

und sie kann manchmal Teil von unterdrückerischen sozialen Strukturen sein.

Ich wollte epistemische Ungerechtigkeit isoliert betrachten,

um zu sehen, ob sie sich durch alle Fälle,

ob zufällig oder systematisch durchzieht

und wie sie sich in verschiedene Muster sozialer Ungerechtigkeit einordnen lässt.

Ich glaube, ein gutes Beispiel für das, was jetzt eben auch erklärt haben,

ist auch das Buch von Rebecca Solnit, der amerikanischen Essayistin,

die dieses wunderbare Buch geschrieben hat,

wenn Männer mir die Welt erklären, war zuerst ein kleiner Essay

und sie hat den Begriff geprägt, es man's planning,

ein Kofferwort aus man und explaining

und beschreibt, bis sie an einer Konferenz war

und da hat ein Mann ihr über längere Zeit hinweg

den Inhalt ihres eigenen Buches erklärt

und da sie ihn darauf aufmerksam gemacht hat,

hat er nicht einmal aufgehört, sondern er hat einfach weitergemacht.

Also für ihn war überhaupt nicht denkbar,

dass sie die Verfasserin dieses Buches sein könnte.

Also das wäre wahrscheinlich ein gutes Beispiel

und auch da sehen wir wieder, man tut dieser Rebecca Solnit unrecht

und wenn man ihr nicht zuhört, entgeht einem auch

ein Stück Weltwissen vielleicht, zu dem sie auch beitragen könnte.

Ganz genau, das ist ein wunderbares Beispiel.

Es zeigt diesen zwischenmenschlichen oder transaktionalen Aspekt,

aber es widerspiegelt auch das umfassendere Problem,

dass der Wissensfluss in gewisser Weise gestoppt wird.

Das Problem war uns allen immer schon bestens bekannt.

Seltsamerweise ließ es sich in der analytischen Philosophie

nur sehr schwer artikulieren.

Wahrscheinlich, weil man davon ausging,

dass all das feministische Zeug, all diese seltsamen

kontinentalen philosophischen Ideen,

nicht wirklich etwas mit Wissen zu tun haben.

Dagegen führte ich ins Feld,

dass unser ganzes Konzept von Wissen

möglicherweise von genau dieser Art des Informationsaustauschs abhängt

und somit davon, ob es uns gelingt,

die Vorurteile in dieser zentralen Praxis zu korrigieren.

Die Tugend, die sie vorher angesprochen haben,

ist hier nur ein Teil der Lösung.

Genauso wie das Unrecht und die Vorurteile strukturell bedingt sind,

müssen auch die Lösungen

bei den Strukturen und Verfahren ansetzen.

Ich habe es schon erwähnt,

Sie sind eine der meist zitierten Philosophinnen der Zeit,

also mittlerweile wirklich ganz im Olymp angekommen.

Aber gerade sind es Zeiten, wo Sie selber so etwas erlebt haben.

Die philosophischen Philosophie, da hat man oft gedacht,

ja, das sind diese sehr speziellen Special-Interest-Theorien.

Ist das eine Erfahrung, die Sie oft gemacht haben,

dass man Ihnen auch nicht die Glaubwürdigkeit gegeben hat,

die Sie eigentlich erwartet haben?

Keine Ahnung, denn ich weiß nicht, was man über meine Arbeit sagt.

Aber früher traf das zu, keine Frage.

Es war nicht immer leicht.

Sicher gab es Leute,

die feministischen Arbeiten gegenüber Vor eingenommen waren

und sie ablehnten.

Manchmal, wenn auch nicht oft, betraf es auch mich.

Vielleicht hatte ich auch einfach Glück.

Es gibt auch heute noch viele Frauen,

die feministische Arbeit leisten

und wirklich mit Vorurteilen konfrontiert sind.

Ich promovierte in feministischer Philosophie

Oxford bei Sabina Lovebond,

eine Expertin für feministische Philosophie.

Es gab dort keinerlei Vorbehalte gegenüber meiner Ausrichtung.

Aber ich tat mich schwer zu erklären,

dass es sich um einen genuinen Beitrag

zur ganzen Philosophie handelt.

Warum gehört diese Arbeit zur Erkenntnis-Theorie?

Was hat es mit dem Konzept des Wissens zu tun

und wie definieren wir diesen Begriff?

Erkenntnis-Theorie wurde damals sehr eng verstanden.

Ich war der Meinung,

dass eine Brücke zwischen feministischen

und analytisch-erkenntnis-theoretischen

Diskussionen geschlagen werden muss.

Darum habe ich mich bemüht.

Genau, und das gelingt Ihnen auch sehr erfolgreich.

Und ich glaube, es wird noch deutlicher,

wenn wir sozusagen das zweite Standbein dieses Buches

noch hinzunehmen.

Wir haben jetzt über diese Zeugnisungerechtigkeit gesprochen.

Wir haben von Unrecht das, was noch tiefer liegt

und das das hermeneutische Ungerechtigkeit.

Nennen Sie das?

Das Phänomen, und das müssen wir, glaube ich,

ein bisschen erklären, dass man sozusagen

die geteilte Ressource an Wissen, die wir haben,

dass es da Lücken gibt

und dass wir deswegen gewisse Dinge gar nicht ausdrücken können.

Sie verwenden das Beispiel des Stalkings.

Können Sie das mal erklären, wie das genau zusammenhängt?

Ja.

Um zu erklären, was ich mit hermeneutischer Ungerechtigkeit meine,

muss ich auf zwei Konzepte zurückgreifen.

Eines ist die von Ihnen beschriebene hermeneutische Marginalisierung.

Die sichtbar wird, wenn Konzepte oder soziale Bedeutungen entstehen.

Solche sozialen Bedeutungen

werden über verschiedene soziale Gruppen ausgehandelt.

Aber natürlich tragen die mächtigeren sozialen Gruppen

mehr zum Bestand an sozialen Bedeutungen und Konzepten bei,

die von allen verwendet werden.

In Folge des Machtgefälles tragen also nicht alle gleichermaßen

zum geteilten Bestand an Konzepten bei.

Manche Gruppen mögen ihre eigenen Konzepte haben.

Aber wenn andere Gruppen, denen sie ihre Erfahrungen erklären müssen,

diese Konzepte nicht teilen,

können sie sich nicht verständlich machen.

Die Stalking-Geschichte ist dafür ein gutes Beispiel.

Ich habe darüber geschrieben, als Stalking, als Verbrechen

und rechtliches Konzept, zumindest im Vereinigten Königreich,

noch relativ unbekannt war.

Betroffene Personen fühlten sich terrorisiert und lebten in Angst.

Ihre Privatsphäre wurde verletzt.

Aber es gab nichts, was sie der Polizei hätten sagen können,

damit die Polizei aktiv geworden wäre.

Erst mit der Einführung des Begriffs Stalking

über den allgemeinen Sprachgebrauch hinaus

in den juristischen Diskurs wurde es als Verbrechen anerkannt.

Die Begriffsbildung ist hier fast exemplarisch.

Das Konzept geht von Menschen aus, die eine entsprechende Erfahrung machen.

Es verbreitet sich und wird dann institutionalisiert.

Zu dem Zeitpunkt, oder vielleicht auch schon ein wenig vorher,

ist es zu einer kollektiven hemmeneutischen Ressource geworden,

zu einem Begriff, den jeder und jede im sozialen Raum verwenden kann,

mit der berechtigten Erwartung verstanden zu werden.

Interessant ist ja auch, wie sehr man erleichtert ist,

wenn man plötzlich einen Begriff in der Welt hat,

der genau das beschreibt, woran man gelitten hat.

Vorher hatte man diese Möglichkeit, gar nicht darüber zu sprechen.

Sehr verbreitet ist das Phänomen auch in der Medizin

und tatsächlich hat ihre Theorie auch sehr viel Liederhall gefunden.

In der Bioethik zum Beispiel, in der Medizin.

Es gibt heute Lehrstühle für Gendermedizin zum Beispiel.

Denn das genau darum geht, unter der Kampagne Believe Women,

zu sagen, hört den Frauen zu, was sie beschreiben

und lasst uns auch diese Phänomene hinreichend dicht beschreiben,

erforschen, so dass wir eben vielleicht Krankheitsbilder erkennen,

mit denen wir den Frauen helfen, sich überhaupt artikulieren zu können.

Das neue Verständnis von Geschlecht und Transgender-Identität

ist ein wunderbares aktuelles Beispiel dafür,

wie Konzepte in einer lokalen Gruppe entstehen

und dann allmählich die ganze Gesellschaft durchdringen.

Und das Verständnis dafür über die betroffene Gruppe hinauswächst.

Zeugnis, Ungerechtigkeit und hermenäutische Ungerechtigkeit

haben also in gewisser Weise eine parallele Struktur.

Bei der Zeugnis Ungerechtigkeit wird die Glaubwürdigkeit

durch Vorurteile untergraben.

Bei der hermenäutischen Ungerechtigkeit wird das eigene Verstehen,

aber wahrscheinlich auch das Verstehen anderer Personen,

durch diese besondere Art von Ungerechtigkeit verringert,

die ich hermenäutische Marginalisierung nenne.

Wenn man daran scheitert,

anderen seine Erfahrungen verständlich zu machen,

weil wir nicht über die dafür nötige, geteilte Begrifflichkeit verfügen,

macht man die Erfahrung hermenäutischer Ungerechtigkeit.

Um es vielleicht noch einmal deutlicher zu machen,

habe ich einen Filmausschnitt mitgebracht,

den ich gerne mit Ihnen anschauen möchte.

Er stammt aus dem Film Unser Vater,

ein Film, der im Moment im Kino läuft,

ein Dokumentarfilm über einen Fikar,

der in den 1950er- und 60er-Jahren in der Schweiz

eine Vielzahl von Frauen geschwängert hat,

sitzen gelassen hat.

Und auch die Kinder des Fikars

brechen in diesem Film ihr Schweigen.

Es gibt eine Frau,

die erzählt im Rückblick,

was für sie damals passiert ist,

eine sehr erschütternde Szene.

Er hat gesagt, ich komme ein kleines Bett.

Wir haben eine Wärme.

Es ist nicht warm.

Da bin ich zu einem Herd gelegen.

Und er hat das gemacht.

Ich wusste gar nicht, was er macht.

Und dann hat er mir 1000 Euro bezahlt.

Aber ich wusste noch nicht, was es geht.

Und dann hat er einfach angefangen.

Er ist in meinen,

und das hat die Hölle geschweigt.

Und dann habe ich gesagt,

hör mal hoch, es tut weh.

Und er hat gesagt, für nicht lange,

es tut er nachher gut.

Das war alles.

Und dann bin ich heim,

habe ich auch gereicht und bin heim.

Ich war behauptet.

Es ist wahnsinnig berührend,

aufgrund des Unrechts, was hier geschehen ist.

Aber auch, was mich so fassendlos macht

und sprachlos ist,

diese Frau hatte gar keinen Begriff davon,

was abläuft.

Und auch keinen Begriff davon,

dass sie dich wehren könnte.

Ja, es ist eine sehr bewegende Geschichte.

Schrecklich, wie sie am Ende sagt, ich war dumm.

Sie war nicht dumm, sie wurde missbraucht.

Ihre Unwissenheit, ihre Jugend

und ihr Vertrauen wurden ausgenutzt.

Es mag tatsächlich aus heutiger Sicht

überraschender Scheinen,

dass eine Person nicht wissen konnte, was mit ihr geschah.

Bei näherer Betrachtung wird es aber verständlich.

Denn wie gut wir unser soziales Leben interpretieren können,

hängt sehr davon ab,

wie sich die Menschen um uns herum ausdrücken.

Wovor wir gewarnt werden

und wie uns die Welt beschrieben wird.

Pass bei so etwas auf.

Manchen Männern kann man nicht trauen.

Wenn man dazu erzogen wird,

einem Priester völlig zu vertrauen

und ahnungslos puncto sex ist

und einfach nicht weiß, was missbrauch sein kann,

erkennt man es nicht, wenn es einem passiert.

Selbst Jahre später,

vor allem wenn es mit Stigma und Scham behaftet ist,

sie war nicht dumm, sie war Opfer eines Verbrechens.

Bei Weitem das Schlimmste daran

ist das Sexualverbrechen selbst.

Ich kann nicht für diese Frau sprechen,

aber ich denke, sie haben recht,

wenn sie darin auch ein Beispiel

für hermenäutische Ungerechtigkeit sehen.

Die ungleichen Voraussetzungen,

Situationen zu lesen,

führen zu dieser krassen Unfähigkeit,

die eigenen Erfahrungen als das zu sehen,

was sie sind.

In unseren abgehobenen Diskursen

unter uns aufgeklärten Menschen

vergessen wir manchmal,

wie die Welt wirklich ist.

Wir gehen von bestimmten Dingen aus

und wissen, die richtigen Begriffe zu verwenden.

All das hängt aber davon ab,

unter welchen Umständen,

an welchem Ort und zu welcher Zeit

wir aufgewachsen sind.

Diese Begrifflichkeiten zu haben,

darüber haben wir schon gesprochen,

dass es leichter sein kann,

weil man sich erst mal artikulieren kann.

Ein interessanter Fall finde ich auch

das DSM-5, also das Manual

zur Diagnose von psychiatrischen Erkrankungen.

Auch in diesem Kontext

wird oft Bezug genommen auf ihre Arbeit,

dass man sich überlegt,

welche Formen von psychischer Erkrankung

müssen wir wirklich

als Krankheitsbild anerkennen,

um auch den Personen, die darunter leiden,

Gerechtigkeit zu tun,

ihnen nicht nur Glauben zu schenken,

sondern auch eine Begrifflichkeit schaffen.

Dann kann man auch das Phänomen

nämlich wissenschaftlicher forschen

und wir kommen in eine gerechtere Welt hinein.

Nun gibt es da aber auch Kritik daran,

weil man sagt, plötzlich haben wir

jetzt immer mehr Krankheitsbilder

und damit auch immer mehr Schubladen,

wo wir Leute reinstecken können.

Wie kommen wir aus diesem Dilemma raus,

dass es natürlich immer antipativ sein kann,

mehr Krankheitsbilder zu kennen

und zugleich auch irgendwie verstörend,

wenn wir jeder Person dann ein Etikett umhängen?

Ich denke, hier gilt es,

ein Gleichgewicht zu finden.

Das Konzept

der hermenäutischen Ungerechtigkeit

kann die Stellung der Patientinnen

und Patienten verbessern.

Es ermöglicht ihnen,

über ihre Erfahrungen zu sprechen,

die sie vorher nicht so einbringen konnten,

dass sie sich verstanden fühlten.

Sehr oft ist es eine Kombination

aus hermenäutischer Ungerechtigkeit

und Zeugnis-Ungerechtigkeit.

Wobei die Zeugnis-Ungerechtigkeit

manchmal eher ein Problem der Strukturen

als zwischen Menschen ist.

Kürzlich hat mir jemand von ihren Erfahrungen

mit psychotischen Schüben erzählt.

Sie war nicht eingebunden

in die Gespräche über die Dosierung

ihres Medikaments.

Eine hohe Dosierung

hatte zu schlechten Erfahrungen geführt.

Es gab eine große Bandbreite

in der Dosierung

und sie wollte zumindest dazu angehört werden.

In diesem drastischen Beispiel

zeigt sich eine formale

oder institutionelle Form

der Zeugnis-Ungerechtigkeit.

Sie durfte nicht Teil des Entscheidungsfindungsprozesses sein.

Epistemische Gerichtigkeit

zeigt sich manchmal

im respektvollen ethischen Umgang

mit einzelnen Personen

und manchmal in der Etablierung ethischer Verfahren.

Ihr Wort hätte Teil des Entscheidungsprozesses sein müssen.

Ich glaube, ein gutes Beispiel

ist auch Long Covid.

Weil man da auch den Eindruck hatte,

so viele Menschen haben erzählt von Symptomen

und oftmals hat man gedacht,

die haben vielleicht zu viel gearbeitet,

die sind vielleicht ein bisschen empfindlich,

möglicherweise hatten die vorher schon

eine schlechte Gesundheit

und je mehr Menschen darüber gesprochen haben

und je mehr man zugehört hat

und so schneller war man auch

am Punkt, wo man gemerkt hat,

wir brauchen einen Begriff dafür

und den hat man jetzt

darauf bezugnehmen.

Das scheint mir auch ein gutes Beispiel zu sein

für das, was Sie meinen, oder?

Ja, das ist ein perfektes Beispiel.

Ich kenne einige Leute,

die an Long Covid litten.

Eine meiner Studentinnen

am Graduate Center hat über dieses Thema geschrieben.

Es ist sehr schwer,

sich verständlich zu machen,

sodass einem auch geglaubt wird.

Auch hier handelt es sich um eine Kombination

aus Hermeneutische und Zeugnis-Ungerechtigkeit.

Denn wenn Ihnen das,

was ich Ihnen sage, unverständlich erscheint,

werden Sie mir wahrscheinlich

wenig Glaubwürdigkeit zubilligen.

Eine solche Kombination

aus beiden Arten kommt oft vor.

Haben Sie damals,

dass Sie dieses Buch geschrieben haben,

damit gerechnet,

dass das so unglaublich viel Einfluss haben wird?

Weil, wie ich schon sagte,

in so vielen Papers taucht das jetzt auf,

eben einerseits in der politischen Theorie,

also gerade auch beispielsweise bei den Kirchen,

die aufarbeiten gehen von Missbrauchskandalen,

wird oft auf Ihr Buch Bezug genommen,

aber eben auch in der Medizin zum Beispiel.

So etwas hatte ich nie erwartet.

Niemand hätte auf einen Bestzeller gewettet.

Ich hoffte, dass es überhaupt präzensiert würde.

Aber es ist spannend zu sehen,

dass die Menschen die Ideen aufgreifen

und ihr eigenes Ding damit machen.

Gerade Menschen außerhalb der Philosophie

und der akademischen Welt

finden etwas darin,

dass ihnen hilft, ihre eigenen Erfahrungen zu verstehen.

Sie fühlen sich dadurch gestärkt.

Wofür es vorher keine Worte gab,

kann jetzt zur Sprache gebracht werden.

Ich bekomme E-Mails von Leuten,

die mir schreiben,

danke, das hat mir geholfen.

Das ist sehr befriedigend.

Eigentlich hat Ihr Buch

selbst ein hermenäutisches Problem gelöst,

indem Sie Begrifflichkeiten geschaffen haben,

die uns helfen,

Übergerechtigkeit noch einmal neu zu sprechen.

Das ist eigentlich interessant.

Ich hoffe es.

Ich muss aber sagen,

dass es viele dieser Ideen

in unterschiedlicher Form schon vorher gab.

Mein Buch schlägt vielleicht

eine Brücke zwischen feministischen

und postkolonialen Diskussionen

und der analytischen Philosophie.

Ich habe versucht,

diese Konzepte allgemein verfügbar zu machen.

Die kontinentale Philosophie,

die gesamte Theorie

zur Dekolonisierung,

der Maxismus, Foucault

drehen sich alle um Macht und Wissen.

Ich wollte mit einem spezifischen Theorie-

Aspekt dazu beitragen,

dass diese Konzepte

breit nutzbar werden,

auch über einen Kontext

von Unterdrückung hinaus.

Wenn jemand,

der alle Vorteile im Leben genießt,

sich als Patient im Krankenhaus wiederfindet

und vielleicht zum ersten Mal

die Erfahrung macht,

dass er einen Glaubwürdigkeitsverlust erleidet,

weil er sich als Patient

kein Expertenwissen nutzbar machen kann,

ist auch das

eine wichtige Art von epistemischer Ungerechtigkeit.

Ich wollte zeigen,

dass diese verschiedenen Arten

von Fällen ein Continuum darstellen.

Auch deshalb haben einige Leserinnen

und Leser erkannt,

dass es für viele unterschiedliche Erfahrungen

in der Welt relevant ist.

Ihr Anliegen aus Philosophien

gilt ja eigentlich immer so eine Art

geteilten Verständnis

dessen, was wir in der Welt vorfinden,

wie wir miteinander sprechen.

Es geht um Machtfragen,

es geht darum, sich zu verständigen.

In der Gesellschaft, aber auch in den ganz kleinen

Zusammenhängen, in Freundschaften,

in Liebesbeziehungen, in Familien.

Und da interessieren sie sich speziell

auch für beispielsweise das Verzeihen.

Darüber sprechen wir gleich.

Aber zuerst möchte ich auch noch darüber sprechen,

wie sie eigentlich Philosophie betreiben.

Weil sie immer wieder betonen,

es gibt die Philosophen,

die denken sich eine Definition aus.

Und dann gehen sie in die Welt

und gucken, passt die Welt zu meiner Definition.

Und sie gehen eigentlich umgekehrt vor.

Sie gucken sich die Welt an,

schauen, was da passiert

und suchen sogenannte paradigmatische Fälle.

Und wie Sie vorgehen,

das haben Sie mal verglichen

mit dem hier.

Sie haben mal gesagt,

im Grunde genommen ist Philosophie

ein bisschen wie Sie vorgehen,

Schwarzwälder Kirschtorte.

Das müssen Sie uns erklären.

Was macht die Philosophin mit der Torte?

Großartig.

Ich versuchte zu zeigen,

dass eine bestimmte moralische Praxis

der Vorwürfe und des Verzeihens

ganz ähnlich wie soziale Institutionen

funktioniert.

Wir alle sind

an einer Art spontanem, kulturellem,

kreativen Prozess beteiligt.

Von einer bestimmten Praxis

gibt es eine erste Version,

die wir dann absichtlich oder spontan

abändern

und auf eine neue Art und Weise nutzen

und ausüben.

Dieses Muster lässt sich

in einem sozial verhalten beobachten.

Die berühmte Kirschtorte

ist also das Original.

Und diese hier sieht sehr aus wie das Original.

In meinem Beispiel durch lief sie dann

viele Anpassungen

bis hin zu einer dekonstruierten Kirschtorte,

die ich einmal auf einer Speisekarte sah.

Serviert wurde ein Schuss Kirscht,

eine Kirsche und ein Stückchen

Schokoladekuchen mit etwas Sahne

auf den Oben drauf.

Alles war dekonstruiert.

Wir Menschen setzen

unseren kulturellen Erfindergeist

ständig auf diese Weise ein.

In der Mode, in der Fernsehwerbung,

auch in der Weiterentwicklung

des Romans, ausgehend vom

vertrauenswürdigen bis hin

zum unzuverlässigen Erzähler

oder in der bildenden Kunst.

Die Menschen mögen das Neue.

So schaffen wir neue Versionen

und die Menschen, die jeder aber genau deshalb versteht,

weil sie sich nur ein bisschen

von der alten Version unterscheiden.

Ich wollte zeigen,

dass die moralische Praxis,

eine an der Vorwürfe zu machen,

genauso auf kulturellem Einfalls

reicht und beruht

und ständig weiterentwickelt wird.

Das heißt, wenn wir jetzt zum Beispiel

über Freundschaft sprechen,

dann ist es so, dass wir

innerhalb der Freundschaft

gewisse Dinge haben, die wir immer wieder vorfinden.

Und weiter gibt es

in der Freundschaft gewisse Dinge

und das ist eben dann ein paradigmatischer Fall.

Und wenn wir über Freundschaft nachdenken,

dann ist es hilfreich, sich immer wieder zu besinnen.

Was sind eigentlich die Elemente, um die es eigentlich geht?

Versteht das richtig?

Ja, das ist richtig.

Als Moralphilosophin blicke ich

auf die geteilte soziale Praxis

der Vorwürfe und des Verzeihens

als etwas historisch Gewachsenes,

wie Nietzsche, Foucault und viele andere

auf ihre Weise,

anstatt mir nur im Hier und Jetzt

anzusehen und zu definieren, was wir tun.

Vieles von dem, was wir heute tun,

kommt aus der Vergangenheit,

die wir nicht loswerden können,

auch wenn wir es wollten.

Unsere Vorwürfe

beinhalten oft ein Element

an Vergeltung und Bestrafung.

Ich plädiere dafür,

davon wegzukommen.

Man mag das früher anders gesehen haben.

Das heißt aber nicht,

dass sie es verdienen,

zu leiden, weil sie mir Unrecht getan haben.

Wir sollten diese Idee

der Vergeltung überwinden.

Idealerweise,

und das wäre ein Paradigmenwechsel,

sind Vorwürfe

Teil einer erfolgreichen moralischen Kommunikation.

Ich teile ihnen mit,

dass mich ihr Verhalten verletzt hat

und dass sie mich verletzt haben.

Ich benenne, was sie getan haben

und bin darin ganz ehrlich.

Es ist keine Therapiesitzung.

Ich sage Barbara, ich finde es falsch,

wie sie mich neulich behandelt haben.

Ich möchte ihnen vermitteln,

dass ich nicht darauf aus bin, ihnen zu schaden

oder sie zu bestrafen.

Mein Bedürfnis sollte darin bestehen,

dass sie mich verstehen

und wir so ein geteiltes moralisches Verständnis

davon erreichen, was passiert ist.

Sie könnten mir antworten,

dass sie sich nicht lächerlich übertreiben.

Vielleicht erreichen wir dann

in einem Gespräch ein geteiltes Verständnis.

Das wäre für mich die Idealform

des Vorwürfe-Machens,

um die es eigentlich im Kern gehen sollte.

Es ist ein normativer Ansatz,

der Vorwürfe zu einem moralisch nützlichen Werkzeug macht.

Die Schwarzwälder Kehrstorte des Verzeihens

ist genau dieses Beispiel,

das funktioniert.

Wo ich dann auch sagen kann,

ich verzeihe Ihnen,

es ist für mich in Ordnung,

Sie haben sich entschuldigt

und dann können wir weitermachen.

Dann funktioniert auch das Soziale miteinander.

Nun geht es natürlich ganz oft schief.

Ich weiß nicht, ob es im gleichen Aufsatz war,

aber Sie sagten mal,

eigentlich sind die Fälle, in denen Dinge schiefgehen,

die interessanteren Fälle.

Weil das Drama ist eigentlich da,

wo die Philosophie auch interessant wird.

Ich bin gerade zu besessen

von Dingen, die schiefgehen,

wie Sie vielleicht bemerkt haben.

Denn um zu verstehen,

wie wir Menschen gut miteinander umgehen können,

ob es sich nun um ein Zeugnis,

ums Verzeihen oder um Vorwürfe handelt,

müssen wir unser Scheitern verstehen.

Wir scheitern nämlich nicht zufällig,

sondern weil das Scheitern

schon in der Struktur unserer Praxis angelegt ist.

Sozusagen als die bereits

inherent angelegten Risiken des Schiefgehens.

Das inherente Risiko des Scheiterns

beim Vorwürfe machen,

kann also darin bestehen,

dass ich in meiner moralischen Verletzung

versuche, den anderen zu bestrafen

und ihm wehzutun.

Dem muss ich widerstehen

und stattdessen versuchen,

mit meinem Gegenüber zu kommunizieren.

Beim Verzeihen gibt es viele Risiken

und Probleme.

Typischerweise scheitert es aber daran,

dass der Vorwurf zurückgegeben wird.

Nehmen wir also an,

Sie haben mir unrecht getan

und ich versuche, Ihnen bedingungslos zu verzeihen.

Sie haben sich noch nicht einmal entschuldigt,

aber weil ich glaube,

dass bedingungsloses Verzeihen wichtig ist,

verhalte ich mich so,

wie wenn ich Ihnen verziehen habe.

Allerdings wird mein Roll zurückkehren,

auch wenn ich das nicht beabsichtige.

Diese Art inherente Dysfunktion,

insbesondere beim bedingungslosen Verzeihen,

macht den Prozess schwierig

und langwierig.

Das ist eine Zermürbung,

die entsteht.

Man kann natürlich auch fragen,

ob das Gegenüber sich auch wirklich entschuldigt

und diese Entschuldigung auch wirklich gemeint.

Nehmen wir mal an,

ich weise Sie darauf hin,

dass Sie mir,

wir würden zusammenarbeiten,

Sie schneiden mir dauernd das Wort ab,

Sie übernehmen alle Ideen,

die ich einbringe

und ich weise Sie immer wieder darauf hin.

Sie sagen jedes Mal,

dann denkt man ja schon,

irgendwie soll ich jetzt hier wirklich noch verzeihen.

Das scheint gar nicht ernst gemeint zu sein.

Verzeihen geschieht

zwischen Personen

und ist sehr persönlich.

In der analytischen Philosophie

pflegt man Regeln auf zu stellen,

wann Verzeihen gerechtfertigt

und wann es Pflicht ist.

Bestimmte Hilfestellungen dazu

können durchaus nützlich sein,

wenn die Entschuldigung

einer Entschuldigung betrifft.

Es wäre seltsam jemandem zu verzeihen,

der sich völlig unaufrichtig

bei mir entschuldigt hat.

Aber Philosophinnen und Philosophen

und ich nehme mich da nicht aus,

warten dann oft mit Sentenzen auf,

wie wenn die Entschuldigung ausreichend war,

besteht eine Pflicht zu verzeihen.

Nun, was ist ausreichend?

Die Vorstellung einer ausreichenden Entschuldigung

ist sehr persönlich

und hängt von der Beziehung,

dass sie und ich

einen gemeinsamen Freund haben,

der uns beide belogen hat,

wofür er sich aufrichtig entschuldigt.

Reicht das?

Es mag gut genug sein für sie,

weil sie wissen, dass es ihm aufrichtig leidtut.

Aber vielleicht bin ich in der Vergangenheit

oft von Freunden belogen worden.

Deshalb ist mir Vertrauen besonders wichtig.

Ich brauche mehr Zugeständnisse,

mehr reue Bekundungen,

um darüber hinwegzukommen.

Sie haben also eine ausreichende Entschuldigung?

Ich nicht.

Ethische Theorien müssen

solchen Unterschieden in der Bewertung einer Situation

und der Frage der Verpflichtung

viel Raum lassen.

Und das ist auch interessant,

dass persönliche Beziehungen im Moment

in der Moralphilosophie

sehr stark erforscht werden.

Man denkt sehr stark viel, viel darüber nach.

Denken wir auch an den Dank zum Beispiel.

Also, wie viel Dank

ist eigentlich ausreichend,

um dem, was Sie mir geschenkt haben,

ausreichend zu kommen.

Man würde ja sagen, es ist eigenartig,

wenn Sie mir sagen würden,

für das, was ich dir da gegeben habe,

ist dieser Blumenstrauß nun zu klein.

Es hätte ein größerer Strauß sein müssen.

Und trotzdem verstehen wir auch,

dass für gewissen Austausch von Gütern

auch ein gewisses Ausmaß

dann an Dank irgendwie notwendig ist.

Dem stimme ich zu.

Zwischenmenschliche Aspekte,

Normen und Richtlinien

für Dankbarkeit

sind denen rund um das Verzeihen

sehr ähnlich.

Verzeihen

ist für mich grundsätzlich ein Geschenk,

weil ich nicht glaube,

dass es ein Recht darauf gibt.

Nehmen wir an, ich habe Ihnen

in irgendeiner Weise Unrecht getan.

Vielleicht habe ich Sie belogen.

Aber ich habe mich wirklich entschuldigt.

Sie wissen, dass es mir sehr leid tut

und auch nach Ihrem dafür halten

war meine Entschuldigung ausreichend.

Damit stehen Sie tatsächlich

in der Pflicht, zumindest

zu versuchen, mehr zu verzeihen.

Es gelingt uns aber nicht immer

zu verzeihen.

Aber wenn es nicht geht,

haben wir es wenigstens versucht.

Das ist traurig, aber daran ist nichts falsch.

Es ist einfach schade.

Weil ich mich entschuldigt habe,

müssen Sie mir also diese schlimme

Sache, die ich getan habe, verzeihen.

Was aber, wenn Sie mir nicht verzeihen.

Wenn Sie mich hinhalten

und ich immer frustrierter

und verzweifelter werde

und Sie anflehe, mir zu verzeihen.

Auch da ist noch alles in Ordnung.

So etwas passiert zwischen Menschen.

Wenn ich aber darauf poche,

ein Recht auf ihr verzeihen zu haben,

überschreite ich meiner Meinung nach

eine Grenze.

Ich wechsle von einer Haltung der Demut

und der Anspruchshaltung

und fordere mein Recht ein.

Ich nehme mir einfach was mir gehört,

so wie ein Staat die Unterhaltspflicht

eines Vaters einfordern kann,

weil die Mutter ein Recht darauf hat.

Das kann beim Verzeihen nicht funktionieren.

Selbst wenn ich Ihnen die Worte abnötigen kann,

erhalte ich am Ende nicht

wirklich das, was ich mir erhoffe,

sondern eine schale,

schlimme und traurige Version

des Verzehens.

Ich kann also nicht verlangen,

dass man mir verzeiht,

selbst wenn auf der anderen Seite

eine Verpflichtung bestünde.

Es gibt immer diesen Geschenkmoment.

Nun gibt es ja auch die Situation

und das haben Sie auch schon angetönt,

wo es quasi ein bedingungsloses Verzeihen gibt.

Also wo die andere Person gar nicht

um Entschuldigung bittet,

ihr unrecht nicht einmal einsieht

und trotzdem verzeiht eine Person.

Und ein besonders krasses Beispiel

und eine solche Situation,

über die ich mit Ihnen sprechen möchte,

ist aus dem Film Filomena

von 2013.

Wir sehen Judy Dench in der Hauptrolle.

Es ist eine Geschichte, die in Irland spielt.

Eine Frau wird auch geschwängert.

Sie wird in ein Kloster gebracht,

wo ihr das Kind weggenommen wird.

Sie wird zur Zwangsarbeit verpflichtet

und viele, viele Jahre später

sucht sie mit einem Journalisten

nach diesem Sohn, weil sie dieses Kind

oder diesen Mann dann so gerne kennenlernen würde.

Und sie stellt fest, dass dieser Mann,

dieser Sohn schon lange verstorben ist an AIDS

und die Nonnen verhindert haben,

dass er seine Mutter noch findet,

weil er hatte darum gebeten.

Und sie trifft dann diese Nonnen in diesem Kloster

und es kommt zu einer ergreifenden Szene,

die ich mit Ihnen anschauen möchte.

Entschuldigen Sie sich, wie was damit?

Sagen Sie, dass es Ihnen leid tut.

Hören Sie auf, Dinge zu verschleiern.

Gehen Sie daraus und befreien Sie die Gräbe

der verstorbenen Mütter und Babys von Unkraut und Dreck.

Ihr Leid war die Buße für Ihre Sünden.

Die Mütter war 14 Jahre alt.

Martin, es ist genug.

Der Herr Jesus Christus wird mein Richter sein.

Nicht Leute ihresgleichen.

Ich glaube, wenn Jesus jetzt hier wäre,

würde er sie aus dem Rollstuhl kippen

und Sie würden nicht aufstehen und gehen.

Hören Sie auf, Martin, aufhören.

Es tut mir leid.

Ich habe ihn nicht mitgebracht,

damit er hier einen Aufstand veranstaltet.

Warum entschuldigen Sie sich?

Anthony hatte Elz

und sie hat ihm trotzdem nichts von Ihnen erzählt.

Nein.

Schwester Heligart?

Ich möchte, dass Sie wissen,

dass ich ihn vergebe.

Wie? Einfach so?

Nein, nicht einfach so.

Es ist schwer.

Es ist schwer für mich.

Ich will die Menschen aber nicht hassen.

Ich will nicht so sein wie sie.

Ich habe das nicht Situationen, wo man nicht verzeihen sollte,

weil man sich selbst schuldet,

aus Selbstrespekt heraus.

Es gibt sicher viele Situationen,

in denen man nicht verzeihen sollte.

Aber auch das hängt von der eigenen moralischen Einstellung ab.

Das ist eine sehr bewegende Szene.

Ich habe nicht den gleichen Standpunkt.

Ich bin kein religiöser Mensch.

Aber ich respektiere Ihre Einstellung wirklich.

Und ich verstehe den Sinn dahin.

Man könnte bedingungsloses Verzeihen gleichsetzen damit,

jemanden aus der Verantwortung zu entlassen

und seine Taten rundweg zu billigen.

Falls das alles wäre, sollte man es nicht tun.

Ich glaube aber nicht, dass das hier eine solche Situation war.

Sie hat gesehen und verstanden, was man ihr angetan hat.

Genauso wie Martin, der Journalist, hat sie verstanden,

wie falsch es war, was man ihr angetan hat.

Wenn sie zu Schwester Hildegard sagt, ich verzeihe dir,

dann setzt sie voraus, dass es durchaus etwas Schreckliches

zu verzeihen gibt.

Das Aussprechen des Verzeihens beruht auf der Idee,

dass es auch tatsächlich etwas zu verzeihen gibt.

Beim Akt des Verzeihens kommen also zwei Dinge zum Ausdruck.

Du warst im Unrecht,

und ich verzeihe dir.

In dieser Szene sagt sie nicht explizit,

ich verzeihe dir, dass du diese schrecklichen Dinge

x, y, z getan hast.

Was interessant ist,

denn sie ist hier bereits in der Haltung des Verzeihens.

Mich interessiert, wie leicht Verzeihen scheitern kann,

selbst wenn wir unser Bestes geben.

Vor dem Hintergrund der moralischen Verletzung

sind wir versucht zu sagen,

ich verzeihe dir diese schrecklichen Dinge, die du getan hast.

Aber dann fallen wir doch wieder in die Vorwurfshaltung zurück.

So wie ich diesen Film lese,

wird zwar wohl nicht Schwester Hildegard, aber uns klar,

dass die Figur der Judy Dench die Entscheidung treffen kann,

nicht zu hassen.

Sie verzeiht, damit sie weiterleben kann.

Es ist aber sehr wichtig,

dass dieses Modell des bedingungslosen Verzeihens

nie jemandem aufgezwungen wird.

Interessant ist doch auch die Frage,

weil sie sagen, das Verzeihen ist immer ein Geschenk.

In diesem Fall ist es ja auf jeden Fall ein Geschenk,

weil sie bittet ja nicht einmal darum,

dass ihr die Schwester verziehen wird.

Aber für wen ist eigentlich das Geschenk?

Ist es ein Geschenk für Hildegard?

Oder ist es ein Geschenk,

dass diese Figur Philomena sich selbst macht,

weil sie auch sagt, ich möchte mich nicht mehr

mit dieser Last aufhalten?

Das ist eine sehr interessante Frage.

Das Wort Geschenk lässt sich in beide Richtungen verstehen.

Ich neige dazu, es als ein Geschenk an die Täterin zu sehen,

also an Hildegard, ob sie es will oder nicht.

Verzeihen kann ein unwölkommenes Geschenk sein,

denn es zwingt Hildegard darüber nachzudenken,

was ihr verziehen worden ist.

Ich habe etwas Falsches getan,

und jetzt ist mir verziehen worden.

Im Gefühl, nichts falsch gemacht zu haben,

werden Personen manchmal wütend, wenn ihnen verziehen wird.

Darin legt ein Teil der Macht, das Verzeihen auszusprechen.

Es ist also ein problematisches Geschenk für Hildegard.

Es ist ein Geschenk der Befreiung von Hass und Kroll.

Aber es ist auch eine Voraussetzung dafür,

dass sie die Last ihrer Verantwortung für das,

was sie getan hat, annimmt.

Man kann sich Philomena, die Figur der Judy Dench,

auch als religiöse Person denken,

die teilweise aus einem Gefühl religiöser Pflicht heraus vergibt,

aber auch aus einem tief verinnerlichten Wunsch herauszuverzeihen.

Es gibt viele sehr komplexe Gründe zu verzeihen.

Dazu gehört immer auch,

dass wir verzeihen, um uns selbst zu heilen.

Wir wollen nicht hasserfüllt sein.

In nicht philosophischen Büchern über das Verzeihen,

in denen Menschen sehr schwierige, traumatische Dinge zu verzeihen haben,

sagen sie nie, ich will, dass die Täter nicht mehr leiden.

Sie sagen, ich möchte nicht diese wütende Person sein.

Ich will nicht hasserfüllt sein.

Ich muss das hinter mir lassen.

Ich denke, wir verzeihen in erster Linie,

um uns von sinnlosen Vorwürfen und Wut zu befreien.

Das heißt, man macht das Geschenk auch ein Stück weit sich selbst,

weil man sich nicht auf dieses geteilte Verständnis berufen kann,

was entstehen kann, wenn Verzeihen und Vorwürfe machen, funktionieren.

Was ist eigentlich am Werk, wenn wir sagen,

wir verzeihen uns selbst etwas?

Haben wir dann ein geteiltes Verständnis,

worum es geht mit uns selbst, oder wie funktioniert das?

Es ergibt für mich keinen Sinn,

mir meine eigenen Fehler bedingungslos zu verzeihen.

Es mag Menschen geben, die das tun,

aber letztlich steht man sich damit ja nur aus der Verantwortung.

Denkbar wäre eine Art von bedingtem Verzeihen, wenn man sich sagt,

ich habe diese schlimmen Dinge getan,

aber ich war bereit, die Verantwortung zu akzeptieren

und die Schuld auf mich zu nehmen.

Ich habe versucht, es wieder gut zu machen.

Selbst wenn die Person, der ich unrecht getan habe, mir nicht verzeiht.

Wenn ich zum Schluss komme, dass sie mir eigentlich hätte verzeihen müssen

oder dass es einfach traurig ist, dass sie mir noch nicht verzeihen kann,

dann sollte ich mir selbst verzeihen.

Das ist innerhalb des Konzepts eines geteilten Verständnisses

durchaus denkbar, weil ich das moralische Unrecht,

hoffentlich im Beisein der anderen Person, angesprochen habe.

Dieser Dialog ist jetzt aber gescheitert.

Man will mir nicht verzeihen.

Trotzdem halte ich es für sinnvoll und richtig, mir zu verzeihen,

weil ich die moralische Bedeutung dessen,

was ich getan habe, vollständig erfasst habe.

Sie sind ja eine der Philosophinnen,

die ich bei Bernard Williams noch studiert habe.

Der war einer der Superweiser neben Sabina Lovibond,

der PhD ist, also ihres Doktorats.

Bernard Williams war wahrscheinlich einer der größten

und wichtigsten Moralphilosophen des 20. Jahrhunderts.

Und was ja interessant ist,

ist, dass Bernard Williams sich auch immer interessiert hat,

gar nicht nur für Situationen, in denen jemand

einer anderen Person unrecht tut,

sondern in denen ein Unglück geschieht.

Etwas ganz Schreckliches.

Das ist beispielsweise in seinem Buch über Moral Luck.

Da beschreibt er, wie ein Lastwagenfahrer ein Kind überrollt.

Und der Lastwagenfahrer tut das ja nicht absichtlich.

Aber es stellt sich die Frage, ob der Lastwagenfahrer

trotzdem ein schlechtes Gewissen haben sollte.

Und ich möchte Sie gerne fragen,

muss dieser Lastwagenfahrer sich zum Beispiel auch entschuldigen?

Also ist es richtig, sich für Dinge zu entschuldigen,

für die man gar nichts kann,

in denen man aber eine kausale Rolle gespielt hat?

Die Frage der Verantwortung

ist ein hochinteressanter Bereich der Moralphilosophie.

Bernard Williams hatte eine sehr ungewöhnliche Sichtweise,

die stark von der antiken Philosophie geprägt war,

die er zuvor studiert hatte und über die er auch später schrieb.

Von den alten Griechen hatte die Idee übernommen,

dass Glück und Pech fest zu unserem Leben gehören.

Ob wir letztlich ethisch handeln oder moralische Fehler machen,

wird oft vom Zufall bestimmt.

Unsere Verantwortung umfasst aber alles,

in das wir kausal involviert sind.

Dies steht im Gegensatz zu einer Art postkantianischem,

eher christlich geprägtem Rahmen,

wonach man nur für Dinge verantwortlich ist,

die man kontrollieren kann,

also in unserer Macht stehen.

Ist der Lastwagenfahrer, der einen schrecklichen Unfall verursacht hat,

bei dem jemand getötet wird,

verantwortungsvoll und vorsichtig gefahren,

wird er sich schrecklich fühlen.

Aber er sollte keine moralische Schuld empfinden,

weil er moralisch gesehen nicht schuldig ist.

Dem stimmt Williams zu.

Moralisch gesehen gibt es keinen Vorwurf.

Er spricht von einer tragischen Situation,

in der unser eigenes Handeln schreckliche Folgen hat.

Zwar tragen wir keine Schuld,

aber das Unglück liegt dennoch in unserer moralischen Verantwortung.

Für die moralische Gefühlsreaktion der betroffenen Person

brauchen wir einen Begriff.

Einfach zu sagen, du stehst im Moment unter Schock,

du brauchst dich nicht schuldig zu fühlen,

führt zu einem confusen moralischen Gefühl.

Williams wollte das Gefühl,

etwas Falsches getan zu haben, validieren,

indem er eine Art von Schuld einräumt.

Er hat den Begriff tatsächlich verwendet,

wenn auch selten,

für Dinge, die wir ohne eigenes Verschulden verursacht haben.

Er nannte es Agent Regret, also etwa Handlungsbedauern.

Als Handelnder reagiere ich auf das schreckliche Ereignis anders

als Personen, die den Unfall zwar miterlebt haben,

aber nicht ursächlich involviert waren.

Moralische Verantwortung wird also sehr kontrovers diskutiert.

Wie weit gefasst ist sie?

Schließt sie solche Formen des Zufalls oder Unglücks ein?

Dann brauchen wir neue Begriffe,

um über dieses Handlungsbedauern nachzudenken.

Oder sollen wir den Zufall ausschließen und sagen,

dass man nur für das verantwortlich gemacht werden kann,

worüber man die Kontrolle hat?

Was ich merke, wenn ich mit Ihnen spreche,

ist, dass sie ja wirklich eine Denkerin sind unter deren Händen,

sozusagen oder innerhalb deren Denken, die weltreicher wird.

Sie treffen ganz viele Unterscheidungen,

wenn es Ungerechtigkeit geht, aber jetzt auch beim Verzeihen beispielsweise.

Und meine Frage an Sie, die letzte Frage an Sie wäre,

glauben Sie, dass wir irgendwie auch bessere Menschen werden,

wenn wir philosophieren,

weil wir irgendwie reicher werden in der Beschreibung der Welt,

die wir antreffen für Phänomene, sensibler vielleicht auch?

Ich liebe Philosophie, die sich auf die dicht gewobene menschliche Erfahrung stützt.

Philosophie muss nicht immer so sein.

Sie kann unser Leben auf unterschiedliche Weise bereichern.

Aber mehr liegt dieser spezielle Aspekt, den Sie aufgegriffen haben,

sehr am Herzen, insbesondere, wenn ich mich mit Ethik beschäftige.

Mein Hintergrund sind die Literatur und die Philosophie.

Ich habe französische Literatur und Sprache und Philosophie studiert.

Und ich habe die Literatur immer sehr vermisst.

Für dieses Buch wählte ich einen anderen Ansatz.

Es enthält lange Wiederkehren der Zitate aus demselben Roman oder Film.

Wie bei einem Close Reading spüre ich den Bedeutungsnionsen des Texts nach.

Sei es ein Roman, eine Biografie oder ein Drehbuch,

mit Blick auf die darin enthaltene Philosophie.

Es macht mir Spaß, Philosophie auf diese Weise zu betreiben.

Weil ich die Literatur liebe, mag ich es, wenn auch andere ihr Vielplatz einräumen.

Sie erlaubt uns, über das Drama und die Struktur

menschlicher Beziehungen und Nöte zu staunen.

Ich interessiere mich für das Scheitern, die Tragödien, die Schwierigkeiten.

Und da suchen wir dann überall die Kirsstorzen sozusagen.

Also diese Paraglidaten.

Wir suchen die Kirsche in der Literatur, im Film und im Drama.

Das ist eine so reiche Quelle.

So kann ich zwei Dinge verbinden, die ich liebe.

Die kühlen Abstraktionen der Modellbildung der analytischen Philosophie,

die aber einfach besser sind,

wenn sie von den konkreten Situationen des Alltagslebens ausgehen.

Als Soziologin könnte ich echte statistische Daten verwenden,

aber ich liebe die Literatur als fantasivvolle Ressource.

Eine Sozialingenieurin des Denkens könnte man vielleicht sagen.

Ich weiß nicht.

Ich bedanke mich auf jeden Fall ganz herzlich für dieses schöne Gespräch.

Miranda Frick, danke schön.

Es war mir ein großes Vergnügen. Herzlichen Dank.

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Sprache ist mächtig: Sie prägt unsere Wahrnehmung, zementiert Machtverhältnisse und kann Beziehungen verändern. So kann eine Entschuldigung eine Freundschaft retten. Miranda Fricker hat Bahnbrechendes beigetragen zur Frage, wie Sprache und Wissen die Welt verändern.

Dass Wissen und Macht einander beeinflussen und durchdringen, ist keine neue Einsicht. Die Philosophie hat aber lange gebraucht, um die ethischen Konsequenzen dieser Einsicht zu verstehen. Miranda Frickers Buch «Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens» hat 2007 für Furore gesorgt. Die einflussreiche Philosophin, Professorin an der New York University, zeigt darin auf, dass wir über ein Sprachrepertoire verfügen müssen, um gewisse Missstände überhaupt erst anprangern zu können. Solange etwa «Stalking» als Begriff nicht existierte, gelang es den Opfern nicht, deutlich zu machen, was sie bedroht. Dabei hängt es nicht zuletzt davon ab, wer spricht, ob wir ihm oder ihr Glauben schenken: So würden wir einer randständigen Person in schmutzigen Kleidern kaum glauben, wenn sie erzählt, sie sei bestohlen worden. Stereotype und Vorurteile tragen so zu Missständen bei, die wir erst erkennen, wenn wir genau über Sprache, Wissen und Macht nachdenken.
Worte sind aber auch mächtig, wenn es darum geht, Missstände wieder zu beheben. Ein Dank oder eine Entschuldigung zur rechten Zeit können alles verändern. Barbara Bleisch trifft eine der faszinierendsten Philosophinnen unserer Zeit zum Gespräch.