NZZ Akzent: Libyen: Die Wut der Überlebenden

NZZ – täglich ein Stück Welt NZZ – täglich ein Stück Welt 9/27/23 - Episode Page - 17m - PDF Transcript

Dieser Podcast wird präsentiert vom Zürich Filmfestival.

Entzett akzent.

Hallo Jonas.

Hallo.

Ziemlich aufgereizte Stimmung hier.

Ja, das sind Proteste in der ostliebischen Küstenstadt Darner.

Da haben sich Tausende Männer versammelt

vor der Alsachaba Moschee, das ein Wahrzeichen der Stadt.

Und hinter dieser demonstrierenden Menschenmasse erstreckt sich diese Trümmerwüste,

die die Flutkatastrophe zurückgelassen hat.

Und ja, diese Männer, sie fordern Rechenschaft, sie fordern Gerechtigkeit.

Sie fordern die Regierung auf, zurückzutreten.

Und diese Aufnahme dieser Demonstration, die stammt vom 18.

September, das ist ziemlich genau eine Woche nach der Flutkatastrophe.

Und in den Gesichtern dieser Männer spiegelt sich die Trauer,

die Verzweiflung, manche Weinen, andere Beten.

Aber vor allem sieht man diesen Männern an, dass sie unglaublich wütend sind.

Für die Menschen in Darner steht fest, nicht Naturgewalt,

sondern das Versagen unfähiger und korrupter Politiker

hat zu einer Flutkatastrophe mit Tausenden Toten geführt,

sagt Ausland-Redaktor Jonas Roth.

Ich bin Marli Nöler.

Am 10. September trifft das Sturmtief Daniel auf Libyen.

Das ist dieser Sturm, der schon ein paar Tage zuvor in Griechenland

für massive Überschwemmungen gesorgt hat.

Dieses Sturmtief zieht dann übers Mittelmeer

und gewinnt dort noch an zusätzliche Stärke.

Und da gibt es schon Warnungen von Meteorologen.

Dieser Sturm werde auf die libysche Küste treffen.

Und das passiert dann und besonders heftig trifft es diese eine Stadt in Darner.

Dort, wo der Sturm heraufzieht, bringen sich die Leute eigentlich in Sicherheit.

Es gibt Anweisungen von den Behörden,

man solle zu Hause bleiben.

Und ganze Familien befolgen auch diese Anweisungen.

Gehen in ihre Häuser während draußen der Regenfeld.

Darin muss zugeben, ich habe noch nicht sehr viel von dieser Stadt gehört.

Da geht es dir wohl wie den meisten.

Das ist eine eher kleine Stadt im Osten Libyens.

Es hat rund 100.000 Einwohner.

Und die Stadt hat einen speziellen Ruf in Libyen.

Schon 2011 bei den Aufständen gegen die Libynen.

Die Einwohner von Darner zu den Ersten,

die sich gegen diese Herrschaft erhoben haben.

Und heute ist Libyen ein Land,

das durch einen Bürgerkrieg eigentlich zweigeteilt wurde.

Und wird von zwei verschiedenen Regierungen regiert.

Und im Osten hat der Kriegsherr und General Khalifa Haftar das Sagen.

Voraus ein total unübersichtiger Einwohner.

Voraus ein total unübersichtiger Alles.

Es ist wahnsinnig kompliziert.

Und Haftar sieht in Darner ein widerspenstiges Terroristennest.

Nach dem Sturz Gaddafis

gab es tatsächlich zwischenzeitlich ein Schreckensregime

des islamischen Staats in dieser Stadt.

Er wurde dann vertrieben,

aber Haftar regt offensichtlich immer noch einen Groll gegen diesen Ort.

Also hat ein bisschen widerspenstigen Charakter in dieser Stadt.

Genau.

Lass uns zurückgehen zu dieser Nacht in Darner.

Wir wissen, sie geht schlimm aus.

Was ist denn ganz genau passiert?

Dieser Sturm trifft auf die Küste,

bringt teilweise Rekordmengen an Regen mit sich.

Südlich von Darner erstreckt sich eine große Schlucht

mit mehreren Seitenarmen.

Und in dieser Schlucht gibt es zwei Dämme.

Und nun sammelt sich dieses Wasser in der Schlucht

und hinter diesen Dämmen, wo es sich langsam anstaut.

Doch diese Dämme sind für solche Regenmassen nicht gemacht.

Und brechen.

Genau, sie brechen.

Von diesen Dämmen ist heute praktisch nichts mehr übrig.

Die wurden regelrecht fortgespült.

Und dann bricht eigentlich eine Flutwelle über dieses Darner herein,

gewissermaßen ein Tsunami aus dem Landesinnern.

Und die Leute sind in ihren Häusern, viele schlafen.

Das war mitten in der Nacht?

Das war mitten in der Nacht.

Dann kommt diese Flutwelle und reist unzählige Häuser

mit ihren Bewohnern mit sich ins Meer.

Ich habe hier Satellitenbilder dabei.

Auf diesen sieht man die Stadt vor der Katastrophe und danach.

Und eigentlich hat es in der Mitte der Stadt eine riesige Schneise.

Rund 25 % der Stadt sind nicht mehr da.

Ein Teil der Stadt sieht wirklich aus,

als wäre sie dem Erdboden gleichgemacht.

Ja, genau. Es ist nur noch ein Trümmerfeld mitten in der Stadt.

Das ist eine Katastrophe von unvorstellbarer Gewalt,

die über einen kleinen Ort hereingebrochen ist.

Und der Gedanke,

dass da wirklich Familien im Schlaf überrascht wurden

von solchen Wassermassen,

das hat mich auch berührt.

Das ist unglaublich tragisch.

Dass in so kurzer Zeit so viele Menschen

einfach ins Meer gerissen werden.

Ich kann mich an wenige Naturkatastrophen erinnern,

die ein ähnliches Ausmaß haben.

Vielleicht das Erdbeben in der Türkei oder der Tsunami in Südostasien.

Dass in so kurzer Zeit so unerwartet so viele Menschen eisterben.

Ja, und die Opferzahlen sind auch wirklich hoch.

Der Rote Halbmann spricht von über 11.000 Toten

und es werden mindestens 9.000 Menschen weiterhin vermisst.

Das ist ein riesiges Ausmaß dieser Katastrophe

und es zeigte sich auch relativ schnell,

dass die Behörden in Ostlibien komplett überfordert sind

mit diesem Ereignis.

Die Hilfe läuft nur schleppend an.

Es gibt zu wenige schwere Geräte,

mit denen man die Trümmer beiseite räumen kann,

um Überlebende zu bergen.

Die Friedhöfe sind voll,

man hat begonnen, Massengräber auszuheben.

Die Trinkwasseranschlüsse sind zerstört

und auch wegen dieser Leichen im Boden

wird das Grundwasser verseucht.

Das heißt, es gibt jetzt gesundheitliche Probleme.

Bereits sind mehrere Menschen erkrankt

wegen dem Konsum dieses Wassers.

Also es ist pures Chaos in Darnau.

Wir sind gleich zurück.

Jonas, ich erinnere mich noch.

Wir haben an dem Tag, als diese Flutkatastrophe kam,

gerade einen Podcast gemacht über Marokko,

also das Erdbeben und die schleppende Hilfe

im Atlasgebirge, auch da,

die überforderten Behörden,

die ummächtigen Menschen eigentlich

und dann direkt kurz danach kam Libyen.

Und irgendwie hatte ich den Eindruck,

das ist nicht gleich präsent, aber in den Medien.

Ich glaube, das stimmt schon.

Also dann kam einfach in mich noch mal eine Katastrophe

und das hat man zunächst gar nicht zur Kenntnis genommen.

Und für die Menschen vor Ort in Libyen

ist es etwas anderes als in Marokko,

weil Libyen ist im Gegensatz zu Marokko ein Failstate.

Also da läuft gar nichts koordiniert ab.

Es sei ein nicht funktionierender Staat.

Es sei ein nicht funktionierender Staat.

Wie gesagt, er ist zweigeteilt zwischen zwei Regierungen,

ein zerstrittenes Bürgerkriegsland.

Und da ist es jetzt unglaublich viel schwieriger,

Hilfe effektiv zu organisieren.

Das hat einerseits mit der

liebischen Bürokratie zu tun,

mit der Korruption vor Ort.

Das hat aber auch mit den Auswirkungen

des Unwetters zu tun.

Also der Weg nach Dharna

vor der Katastrophe ging eine Autofahrt

von Benghazi nach Dharna

etwa drei Stunden.

Jetzt sind es wohl rund sieben Stunden.

Und sonst kommt man eigentlich nur noch

über das Meer nach Dharna.

Und weil eben diese Hilfe

so lange auf sich warten ließ,

weil jetzt das Grund, was er versorgt ist,

befürchten Hilfsorganisationen

schon die nächste Krise,

eine Gesundheitskrise,

dass sich da Krankheiten wie Cholera, Hepatitis A

oder Typhus ausbreiten.

Was macht das mit den Menschen in Dharna?

Dass diese Hilfe ausbleibt

und die Katastrophe immer noch größer eigentlich wird?

Man konnte das eigentlich am Fernsehen

mitverfolgen, wie

die Wut in dieser Stadt gewachsen ist.

Vor den Kameras der internationalen Presse

äußerten sich diverse Bewohner

von Dharna und beklagten

diese unhaltbaren Zustände in der Stadt.

Dieser junge Mann hier

sagt eigentlich,

dass in Libyen alles schiefläufe,

in jedem Lebensbereich

alles komplett chaotisch.

Er sagt, die Politiker würden das Geld

der Menschen ausgeben,

ohne auf sie zu hören.

Und jetzt fragen sie sich natürlich,

war diese Katastrophe

wirklich unausweichlich?

War der Tod von tausenden Menschen

wirklich nicht zu vermeiden?

Da beginnt dann auch die Stimmung

zu kippen, wie du anfangs diese

Peste beschrieben hast.

Genau, also eine Woche nach

der Katastrophe kommt zu dieser

Demonstration im Zentrum von Dharna.

Dieser ohnmächtige Schmerz

hat sich inzwischen in Wut

verwandelt, in Wut der Bevölkerung,

die jetzt

erkannt hat, dass

dieses Desaster auch Mensch gemacht ist.

Und

vor dieser Moschee versammeln sich

Tausende Männer

und rufen in Sprechkören

ihre Slogans

und ihre Forderungen.

Was rufen sie?

Sie sagen zum Beispiel Diebe

und Betrüger sollen hängen

und sie spielen damit an

auf die grassierende Korruption

im Land und mit den Dieben

sind die Politiker gemeint, die

den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen.

Sie fordern auch die

Absetzung des ostliebischen

Parlaments und

sagen eigentlich ganz offen, dass es

eine Option war, die zu dieser Katastrophe geführt hat.

Wie meinen Sie das?

Dharna war jetzt schon

länger nicht in einer guten Verfassung,

das hat mit diesem

Streit zu tun, mit diesem

Groll den Haftar auf diesen Ort

hat, das hat aber auch damit zu tun,

dass praktisch kein Geld in Infrastruktur

investiert wurde.

Und zum Beispiel diese beiden Dämme südlich der Stadt,

die wurden während Jahrzehnten

nicht entstandgehalten.

Obwohl man wusste, die sind eigentlich

ganz fit. Ja, das war

eigentlich offensichtlich.

Und auch aus diesem Grund entleiht sich

jetzt diese Wut immer mehr.

Also diese Demonstration,

das ist nicht das Ende von diesem Abend

am 18. September.

Im Anschluss zieht dann ein

Wütendermob durch die Straßen von Dharna

und das geht so weit,

dass einige Leute dann

das Haus des Bürgermeisters in Brand

setzen.

Also Wut

und Chaos, das ist auch kritisch

jetzt für die Stadtregion.

Ja, also

die merken, es wird für uns

jetzt ungemütlich, die Stimmung

kippt gegen uns. Die sind auch

völlig überfordert mit der Situation

ganz offensichtlich.

Es wird dann auch zwischenzeitlich die

Internet- und Telefonverbindung gekappt

oder gewisse Leute gehen davon aus,

dass die Regierung diese Verbindung

gekappt hat. Was feststeht

ist, dass die Behörden

die Journalisten aufgefordert haben,

die Stadt zu verlassen.

Offiziell ist hier die Begründung,

dass die Journalisten die Rettungsarbeiten

behindert hätten. Aber es kommt ihnen

wohl auch gelegen, wenn nicht allzu viele

Kameras auf dieses Chaos gerichtet sind

und auf diese Wut der Leute,

die in Dharna protestieren.

Warum? Also was fürchtet die Regierung?

Ich glaube schon, dass sie

Angst davor haben,

dass dieser Zorn

auf den Rest des Landes überschwappt.

Ist diese Gefahr

real im Moment?

Ich finde das eine schwierige Frage,

weil das Potenzial

für Wut ist vorhanden.

Libin ist ein kaputt gemachtes Land

und

über Jahre ist zu viel Geld

in die Taschen der Eliten geflossen

in irgendwelche Milizen,

die sich gegenseitig bekämpfen

auf Kosten der Bevölkerung.

Dabei wurde die Infrastruktur

komplett vernachlässigt

und die ganzen Umständen sind

sehr, sehr viel Lieber betroffen.

Aber ob jetzt diese Katastrophe

genügend Mobilisierungspotenzial hat,

um so viele Leute auf die Straße

zu bringen, wie das damals der Fall war

bei den Aufständen gegen Katafi,

ich weiß es nicht, die Leute sind

nach Jahren des Bürgerkriegs

auch müde und wünschen sich

eigentlich nur ein Leben in Frieden.

Also das heißt es nicht unbedingt

jetzt der berühmte Tropfen,

der das fast um überlaufen bringt.

Jonas, gibt es denn

irgendeine Hoffnung

für dieses gebeutelte Land für Libyen?

Also wenn diese Katastrophe

etwas Gutes mit sich gebracht hat,

ist das dieser

Gemeinsinn der Libya

vielleicht wieder ein bisschen

zum Legen erweckt wurde.

Auch wenn das Land geteilt ist,

die Kontakte über die Linien hinweg,

die bestehen natürlich nach wie vor,

da gibt es Familien in beiden Seiten

und nach der Katastrophe

eine sehr große Solidarität entstanden,

wo viele Leute

in eigenen Initiativen

Hilfslieferungen organisiert haben,

sofort rübergefahren sind, um zu helfen

und diese Solidarität,

diese Hilfsbereitschaft,

dieser Gemeinsinn,

so etwas hat man in Libyen seit Jahren

nicht mehr gesehen

und womöglich merken die Leute jetzt auch,

was einmal war

oder was sie alle miteinander verbindet.

Dass sie zusammengehören?

Dass sie zusammengehören

und insofern könnte

Dana vielleicht zu

einem Anstoß

für eine Veränderung im Kleinen

die aber insgesamt

etwas Gutes mit sich bringt.

Hoffen wir es.

Liebe Jonas, vielen Dank für deinen Besuch im Studio.

Danke dir.

Der Druck der Straße

hat offenbar etwas bewirkt.

Anfang Woche wurde bekannt,

dass der Bürgermeister der Stadt

Dana abgesetzt und kurze Zeit später

festgenommen wurde,

gemeinsam mit sieben weiteren ehemaligen

und aktuellen Mitarbeitern

der Staudanbehörde.

Ihnen allen wird Fahrlässigkeit vorgeworfen.

Das war unser Akzent.

Produzent dieser Folge ist David Vogel.

Ich bin Marlin Euler. Bis bald.

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In der ostlibyschen Küstenstadt Darna laufen die Bergungsarbeiten nach der verheerenden Flutkatastrophe weiter. Tausende Menschen wurden schon begraben, Tausende werden noch vermisst. Ohnmacht und Verzweiflung liegt über der Stadt. Doch auf das Entsetzen folgt jetzt die Wut: denn die Menschen erkennen, dass nicht Naturgewalt, sondern Vernachlässigung und Korruption zur Flut geführt haben.

Heutiger Gast: Jonas Roth, Auslandredaktor

Host: Marlen Oehler

Produzent: David Vogel

Weitere Informationen zum Thema: https://www.nzz.ch/international/flutkatastrophe-in-libyen-in-darna-entlaedt-sich-der-zorn-der-bevoelkerung-ld.1756914

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