NZZ Akzent: Der neue Krieg in Israel

NZZ – täglich ein Stück Welt NZZ – täglich ein Stück Welt 10/9/23 - Episode Page - 16m - PDF Transcript

Entitet akzent.

Bei mir im Studio ist Ulrich Schwerin.

Hallo.

Hallo.

Ulrich, du bist Auslandredaktor bei uns

und seit Samstagmorgen ununterbrochen im Einsatz.

Ich danke dir, dass du Zeit gefunden hast,

heute, Sonntag, Nachmittag mit uns zu reden.

Es erreichen uns extrem verstörende Bilder aus Israel.

Die Aufnahmen, die wir sehen, sind wirklich verstörend,

schockierend.

Wir sehen Gewalt, Zerstörung, auch Tod,

Verzweiflung und Hass auf beiden Seiten.

Zum Beispiel hier auf einer Aufnahme von einem Bulldozer,

der ein Teil des Grenzzauns zum Gasesstreifen einreist.

Man sieht, die Menschen jubeln, sie schreiben,

Gott ist groß, dann fällt ein Teil des Grenzzauns.

Sofort strömen junge Männer durch das Loch in dem Zaun

auf die israelische Seite.

Solche Bilder tauchen seit Samstag immer mehr auf

und so ist nach und nach klar geworden,

was das ganze Ausmaß dieses Angriffs ist,

der wirklich präzedenzlos ist, den wir so noch nicht erlebt haben.

Es ist wirklich ein Großangriff der Hamas Miliz auf Israel,

der das Land völlig überrumpelt hat.

Israel befindet sich im Krieg.

Die radikalislamische Hamas hat aus dem Gasesstreifen heraus

den schwersten Angriff auf Israel seit einem halben Jahrhundert gestartet.

Auslandredaktor Ulrich Schwerin mit einer ersten Übersicht.

Ich bin Marlene Ueber.

Ulrich, also in den frühen Morgenstunden am Samstag,

hat das alles angefangen?

Ja, alles fing an gegen 6.30 Uhr mit einem Hagel von Raketen,

die auf Israel niedergingen.

Überall im Süden des Landes schrillte der Raketenalarm.

Aber es zeigt sich dann, das ist eigentlich ein Ablenkungsmanöver,

der eigentliche Angriff findet am Boden statt.

Wie wir es eben auf dem Video am Anfang gesehen haben,

riss die Hamas an verschiedenen Stellen diesen Grenzzaun ein,

der eigentlich als unüberwindbar galt.

Zugleich gab es dann Angriffe über das Wasser

und auch sogar mit Gleitschirmen haben sie versucht,

die Grenze zu überwinden.

Und einmal auf israelischem Boden schwärmten sie dann aus

in die Siedlungen und Kibbutze und Städte.

Das ist auch alles gleichzeitig?

Genau, man sieht, es ist wirklich ein großer,

orchestrierter, lange geplanter Angriff auf verschiedenen Ebenen.

So was haben wir einfach wirklich noch nicht erlebt.

Und das wirklich Prisante ist,

dass es ihnen dann eben gelingt,

verschiedene Siedlungen zu infiltrieren

und dort eröffnen sie dann wahllos das Feuer

auf Passanten, auf Zivilisten, dringend ein Häuser ein.

Das sehen wir auch auf diesem Video aus dem Kibbutz Bedi,

wenige Kilometer von der Grenze zu Gaza.

Man sieht dort schwarz gekleidete Männer,

schwer bewaffnet, die durch Gärten laufen,

links und rechts kleine Bungalows und schreien, schießen.

Sie suchen Israelis, die sich in ihren Wohnungen

in den Schutzräumen versteckt haben

und gehen wirklich von Tür zu Tür.

Das passiert an mehreren Orten?

Genau, das ist keine zieligste einzige Ort.

Es gibt letztlich Dutzende von Orten,

in denen die Hamas da eindringt.

Die Menschen versuchen sich eben zu verstecken,

die Kämpfer treten Türen ein

und töten wahllos Zivilisten

und entführen dann auch,

bis jetzt ist immer noch nicht klar, wie viele,

aber vermutlich Dutzende Zivilisten und Soldaten.

Wir sind dann wirklich schockierende Bilder,

wie in Gaza nackte, völlig verängstigte Menschen

vorgeführt werden, teilweise verletzt,

manche auch tot, dazu der Jubel, der Anhänger der Hamas.

Also mit äußerster Brutalität?

Ja, diese Bilder sind absolut schockierend

und der ganze Angriff übertrifft wirklich alles,

was man sich hat vorstellen können, was wir auch erwartet hatten.

Es ist natürlich nicht der erste Angriff der Hamas.

Es gibt eine ganze Reihe von Kriegen am Gaza-Streifen

zwischen Israel und der Hamas in den letzten Jahren.

Dazu muss man wissen, die Hamas ist ein Ableger der Muslimbruderschaft,

die Ende der 80er Jahre in Palästina gegründet worden ist.

2007 hat sich dann die Macht im Gaza-Streifen an sich gerissen.

Heute ist sie verfeindet mit der Vatach

von Palästinenser Präsident Mahmoud Abbas,

die im Westjordanland an der Regierung ist.

Sie hat Tausende Kämpfer.

Ihr erklärtes Ziel ist die Vernichtung Israels.

Insofern kommt dieser Angriff nicht ganz überraschend,

aber so erwartet hat es dann doch keiner.

Gleich zu Beginn der Operation

ist der Militärchef der Hamas, Mohammed Dave,

vor die Kamera getreten und hat gesagt,

das ist Vergeltung für die ständigen Provokationen

jüdischer Gruppen.

Bei der Al-Aqsa Moschee auf dem Tempelberg in Jerusalem

ist es eine Reaktion auf die Unterdrückung

der Palästinenser Gaza-Streifen,

wo sie seit 16 Jahren unter der Blockade Israels leben.

Und es ist auch eine Aktion zur Befreiung

der palästinensischen Gefangenen.

Wie reagiert den Israel auf diesen Angriff?

Die israelische Regierung schien zunächst im Schock.

Es hat einige Stunden gedauert,

doch dann ist Ministerpräsident Benjamin Netanyahu

die Kamera getreten, hat sich an die Nation gewandt

und gesagt, wir sind im Krieg.

Und hat radikale Vergeltungen angekündigt gegen die Hamas.

Die Regierung hat dann zugleich

die Mobilisierung der Reservisten verkündet.

Die Bevölkerung wurde aufgerufen,

eine Blut zu spenden.

Im Land strümmten dann die Reservisten zu ihren Einheiten.

Und schon am späten Vormittag

gab es die ersten Luftangriffe der Luftwaffe

auf den Gaza-Streifen.

Und seitdem die Zahl der Toten und Verletzten steigt

stündlich auf beiden Seiten.

Aber du sagst am Anfang, das war ein Schock.

Auf die Regierung brauchte einige Zeit, um zu reagieren.

Es war ein absoluter Schock für die Israeli.

Es war der Morgen des Sabbat,

dem Letzten einer Reihe hoher Feiertage.

Und das Land ist ganz offensichtlich unvorbereitet getroffen worden.

Die ersten Reaktionen, auch der Soldaten

am Rande des Gaza-Streifens wirkte unkoordiniert und chaotisch.

Sie waren offenbar nicht in der Lage, die Hamas aufzuhalten.

Und wirklich gefeierte Raketenabwehr,

der Eier und Daumen war offensichtlich überwältigt

von der Menge der Raketen. Tausende sollen es gewesen sein.

Und viele schlugen ein in Tel Aviv, in Jerusalem,

in Ashkelon, rund um den Gaza-Streifen.

Ich verstehe nicht ganz, wie ist das möglich, Ulrich.

Es ist so ein offenbar koordinierter Angriff.

Wie konnte der israelische Geheimdienst das übersehen?

Ja, das ist wirklich die ganz große Frage,

die sich alle stellen, in Israel natürlich zu vorderst.

Der Mossad und die anderen Geheimdienste

haben ein hohes Ansehen.

Man war eigentlich überzeugt,

dass die Hamas genau überwacht wird.

Und da wandert es infiltriert, dass man genau weiß, was sie tut.

Aber es hat sich gezeigt, das ist nicht der Fall.

Eine Erklärung ist, dass Israel in den vergangenen Monaten

absorbiert war von dem Streit zwischen Regierung und Opposition

und die Justizreform.

Über Monate hat es wirklich Woche für Woche

Großdemonstrationen gegeben gegen diese Reform.

Und viele Reservisten sind da aus Protest

in den Ausstand getreten.

Und schon damals gab es Warnungen,

dass dies die Sicherheit Israels gefährden könnte.

Und während die Israeli, die Regierung und die Opposition

über die Reform der Justiz gestritten haben,

hat die Hamas offensichtlich über Monate

diese koordinierten Angriff vorbereitet,

ohne dass irgendjemand davon etwas mitbekommt.

Und wie das passieren konnte,

das wird ganz sicher noch zu reden geben.

Also das heißt, der Zeitpunkt war nicht ganz zufällig.

Die Hamas kalkulierte irgendwie,

dass Israel im Moment sehr mit sich beschäftigt ist,

oder war die letzten Wochen?

Ja genau, das muss man annehmen.

Sie hat darauf spekuliert, dass Israel abgelenkt ist.

Hinzu kommt aber auch, dass die Hamas selber

unter großem Druck steht.

Denn es laufen seit Wochen Verhandlungen zwischen Israel

und Saudi-Arabien, dem wichtigsten arabischen Land

über eine Normalisierung der Beziehung

und die Hamas würde als Verlierer dastehen.

Bisher war es immer so, dass Saudi-Arabien gesagt hat,

eine Normalisierung kann es erst geben,

wenn der eine Ostkonflikt gelöst ist,

wenn es Frieden mit den Palästinären sein gibt.

Das gilt jetzt offenbar nicht mehr.

Und die Hamas ruft sich nun mit dieser Aktion auch in Erinnerung.

Es gibt sie noch und sie ist ein Akteur, mit dem es zu rechnen ist.

Eine weitere Erklärung könnte sein,

dass der Angriff an einem symbolträchtigen Datum erfolgt hat.

Denn es ist fast Tag für Tag, 50 Jahre nach Beginn des Yom Kippur Kriegs.

Das ist wichtig für die Propaganda der Hamas.

Auch damals wurde Israel völlig überrascht von dem Angriff.

Als am 6. Oktober 1973 Söen und Ägypten von zwei Fronten

gleichzeitig das Land angegriffen haben.

Es war damals ein Schock.

Und es ist bis heute ein nationales Trauma geblieben für dieser Krieg.

Droht das denn jetzt Israel wieder,

dass an mehreren Fronten, also an mehreren Kriegsfronten eröffnet werden?

Das wäre das absolute Albtraumsszenario,

dass es auch einen Angriff aus dem Norden, aus dem Libanon gibt.

Wobei man da sagen muss, es geht nicht um die libanesische Armee,

sondern es geht um die Hisbollah-Militz.

Genauso wie die Hamas lehnt sie das Existenzrecht Israeus ab

und wird vom Iran unterstützt.

Sie sind Teil der sogenannten Achse des Widerstands.

Und die Hisbollah hat sich auch schon heftige Kriege mit Israel geliefert.

Bisher sieht es allerdings nicht so aus,

als wenn sie direkt in den Konflikt eingreifen will.

Es gab zwar am Sonntagmorgen mehrere Angriffe auf israelische Grenzposten,

an der Grenze zum Libanon,

worauf Israel auch sofort reagiert hat.

Aber es scheint erst mal, es wollte die Hisbollah abwarten

und nicht direkt selbst eingreifen.

Okay.

Netanyahu hat mobilisiert den Kriegszustand ausgerufen.

Wie geht es denn weiter?

Netanyahu hat gesagt,

der Feind wird einen nie da gewesenen Preis bezahlen.

Die Armee hat dann am Samstagnachmittag nach und nach

die Kontrolle wieder zurückerlangt hat.

Kibbutz im Dörfer und Städte rund um den Gaserstreifen befreit.

Die Angreifer getötet, die Menschen aus den Schutzräumen befreit

und dann dieses ganze Gebiet evakuiert.

Am Sonntagmorgen ist das Sicherheitskabinett dann neu zusammengetreten

und Netanyahu hat gesagt,

unser Ziel ist es, die Hamas dieses Mal komplett zu zerstören.

Wir erleben nun eine Zunahme der Luftengriffe auf den Gaserstreifen.

Mehr Wohntürme wurden bereits zerstört

und das Gebiet ist abgerührt.

Israel hat auch die Strom- und Brennstoffentzufuhr zu diesem

Küstengebiet abgestellt.

Und stand jetzt am Sonntagmittag zählen wir bereits über

sechs Wochen auf den Gaserstreifen.

Es hat die israelische Armee auf einem Festivalgelände,

wo in der Nacht eine Waiverparty stattgefunden hat.

Offenbar Dutzende Leichen gefunden.

Es sind dort schockierende Bilder, die uns erreichen.

Auf der anderen Seite im Gaserstreifen zählen wir

inzwischen über 370 Parteien.

Es gibt auch noch eine

Fallistenenser, die ums Leben gekommen sind, wobei wir dort

annehmen müssen, dass die Opferzahl noch höher liegt.

Es gibt wenig gesicherte Quellen.

Zudem vermeldet die israelische Armee.

Sie haben hunderte Terroristen, die über die Grenze

eindringen wollten, eliminiert.

Es ist Krieg, es ist grausam.

Die israelische Armee konnte aber, wie du schildest,

nach dem ersten Schock die Kontrolle wieder etwas übernehmen,

einen Angriff stoppen oder bremsen.

Wie schätzt du die Lage jetzt ein?

Es ist alles völlig offen und klar.

Ich denke, der Fokus wird auf den Geisen liegen.

Es ist die Rede von Dutzenden Zivilisten, aber auch Soldaten,

die lebend von der Hamas in den Gaserstreifen

verschleppt worden sind.

Die Hamas sagt, sie sind über das ganze Gebiet zerstreut worden.

Es wird schwierig werden, sie zu befreien.

Es wird eine eigene Gefangene in Israel eintauschen.

Ich gehe davon aus, dass die Reaktion so heftig wird.

Ich gehe davon aus, dass die Reaktion so heftig wird,

wie wir das noch nie gesehen haben.

Ich kann mir vorstellen, dass Nethan Jause

entscheidet, mit Bodentruppen in den Gaserstreifen

reinzugehen.

Dabei wird es ganz gewiss viele Zivile-Opfer geben.

Aber es bleibt natürlich ein Schock

einer Demetigung für Israel.

Es ist ein Schock, die viele Annahmen der letzten Jahre

infrage stellt.

Das Gefühl von Sicherheit und militärische Überlegenheit

erschüttert.

Die Eskalation zeigt auch, dass die Strategie der Regierung

nicht aufgeht, den Konflikt mit den Palästinensern

auszuklammern und sich zu konzentrieren

auf die Normalisierung der Beziehung mit Saudi-Arabien

und anderen arabischen Nachbarn.

Denn der Grundkonflikt ist und bleibt

und so lange es hier keine Lösung gibt,

wird es auch auf Dauer keine Sicherheit für Israel geben.

Und keinen Frieden.

Liebe Ulrich, vielen Dank für deinen Besuch im Studio.

Ja, ich danke euch.

Das war Unsaakzent.

Produzent dieser Folge ist Simon Schaffer.

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Ich bin Marli Nüller. Bis bald.

Copyright WDR 2021

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Der neue Krieg in Israel: Der Grossangriff der radikalislamistischen Hamas aus dem Gazastreifen hat das Land völlig unerwartet erwischt. Es ist der schwerste Schlag gegen Israel seit einem halben Jahrhundert. Auslandredaktor Ulrich von Schwerin mit einem ersten Überblick.

Host: Marlen Oehler

Produzent: Simon Schaffer

Weitere Informationen zum Thema: https://www.nzz.ch/meinung/untitledkrieg-in-gaza-das-politische-kalkuel-der-hamas-koennte-aufgehen-ld.1759828

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