NZZ Akzent: Der Kriegsversehrte: Zwölf OPs in Berlin
NZZ – täglich ein Stück Welt 9/14/23 - Episode Page - 16m - PDF Transcript
Dieser Podcast wird Ihnen präsentiert von Sustainableswitseln.ch.
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Enttet akzent.
Marco, unser Experte für Militärfragen,
Verteidigungssicherheit in Berlin, hallo.
Ja, hallo aus Berlin.
Wo sind wir da?
Wir sind in Berlin-Mitte.
Ein Regner, das ist kühler Sommertag in Berlin.
Wir steigen aus der U-Bahn-Station in der Schwarzkopfstraße aus
und landen dort, wo früher die innerdeutsche Grenze war,
also die Grenze zwischen Westdeutschland und der DDR.
Dort befindet sich heute ein großer Betonklotz.
Das ist der Neubord des Deutschen Bundesnachrichtendienstes.
Den läuft man entlang.
Am Ende kommt man zu einem Gebäudekomplex.
Das Gebäude, das früher mal der DDR-Volkspolizei gehörte.
Heute sind das keine Polizeihuniformen mehr.
Sondern das sind Militäruniformen.
Denn wir sind hier im Militärkrankhaus der Bundeswehr Berlin.
Was machst du da?
Ich bin dort heute einen Patienten besuchen.
Es handelt sich nicht um einen deutschen Patienten,
sondern um einen krigsversehrten ukrainischen Soldaten.
Sein Name ist Sergei Kravchenko.
Hier, am Bundeswehrkrankhaus in Berlin,
versuchen die Militärärzte, diesen Mann zu retten.
Schon zwölfmal wurde der Soldat Sergei Kravchenko operiert.
Zuerst in der Ukraine und dann von deutschen Spezialisten.
Er ist einer von mehreren Tausend krigsverletzten Ukrainen,
die in Ego-Staaten behandelt werden.
Marco Seliger erzählt seine Geschichte.
Ich bin Marlene Nöler.
Marco, du besuchst also Sergei,
einen schwer verletzten ukrainischen Soldaten
in einem Berliner Krankenhaus?
Ja, genau.
Ich besuche ihn gemeinsam mit einem seiner behandelnden Ärzte.
Der russisch kann und somit auch als Dolmetscher fungieren kann.
Ich besuche ihn gemeinsam mit diesem Arzt in seinem Zimmer.
Er kommt da rein und sitzt auf dem Krankenbett am Fenster.
Ein junger Mann im Schneidersitz, kurz geschorene Haare,
wie man das kennt von Soldaten, blaues T-Shirt
und so eine kurze, knielange Hose, auf der Deutschland steht.
Also mutet eigentlich alles ziemlich freizeitmäßig an.
Dann stößt man aber auf jemandem so Schläuche aus dem Hals,
sagen die dann mit Ventilen verschlossen sind.
Das sind das Infusionen mit Schmerzmitteln oder so?
Genau, die sind dazu da,
dass dieser Mann versorgt werden kann mit Infusionen und Schmerzmitteln.
Vielleicht auch sogar mit Narkosemitteln.
Und dieses blaue T-Shirt von ihm
ist an seinem rechten Arm auch so ausgeschnitten, also ausgefranzt.
Weil da ragt ein Metallgestell hervor.
Fast schon wie bei so einer Art Roboter, hätte ich fast gesagt.
Das ist also eine Vorrichtung,
die dazu da ist, Knochen und Gewebe zusammenzuhalten.
Denn dieser Mann hat eine ganz schwere Schulterverletzung
davon getragen.
Wie ist das passiert, weißt du das?
Das hat er mir erzählt, hat sich sehr intensiv emotional daran erinnert.
Er weiß noch genau, es war der 13. Dezember 2022.
Er war in einem Schützengraben in einem Dorf in der Nähe von Bachmut.
Er erzählte mir, dass sie in Verteidigungsstellung waren
an einem kleinen Staudamm.
Bachmut, das ist diese Stadt in der Ostukraine,
in Donbass-Gebiet,
die über Monate heftigst umkämpft war
zwischen den russischen Angreifern und den ukrainischen Verteidigern.
Und Sergiel war bereits zwei Monate dort im Einsatz.
Das war relativ merkwürdig,
weil er ist eigentlich Angehöriger einer Aufklärungseinheit.
Er erzählte mir, ein Aufklärer ist er dazu da,
dass er die Stellungen des Gegners erkundet
und sich dann wieder zurückzieht,
aber nicht monatelang in Gräben ausharrt.
Und das lag daran,
dass Bachmut von den Russen über Monate schwer belagert wurde,
die Russen wollten diese Stadt unbedingt einnehmen.
Das hat einen hohen symbolischen Wert.
Und die Ukraine haben wiederum Bachmut verbissen verteidigt.
Die Russen haben in dieser Schlacht vor allem Söldner
der Wagnergruppe eingesetzt,
die Welle um Welle über Wochen und Monate angerannt sind
und ihre Soldaten quasi viel Kanonenfutter verhetzt haben.
Bei diesem permanenten Druck auf diese Stadt, Bachmut,
da muss der Aufklärungssoldat Sergei quasi
unvorhergesehen in den Schützengraben.
Der Einsatz von Sergei in einem Schützengraben
ist jedenfalls nicht das, wofür ein Aufklärer in der Regel da ist,
aber den Ukrainern ging es darum, diese Stadt zu verteidigen.
Sie mussten alle Soldateneinsätzen, die verfügbar waren,
und Sergei gehörte dazu.
Und so war er dann halt in einem Schützengraben
und hatte die Aufgabe, ihm auch einen Granatgeschlütz,
seinen Granatwerfer zu bedienen.
Und in einem solchen Moment, also, als er eine Granate abschießen wollte,
musste er seinen Oberkörper aus dem Graben heben.
Und in dem Moment wurde er getroffen, und zwar von drei Kugeln,
eine Durchlug quasi sein Handgelenk, eine seinen Bizeps.
Und die dritte Kugel traf halt seine rechte Schulter
und riss ihm quasi die halbe Schulter
und große Teile des Knochens weg.
Das Letzte, was er wusste, ist, er ist getroffen worden,
und dann ist er unmächtig in den Graben gesunken
und wachte aus dem Koma auf in einem Krankenhaus in Nipro.
Wir sind gleich zurück.
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Also, Marco, Sergei liegt schwer verletzt im Schützengraben,
ohnmächtig und wacht dann in einem ukrainischen Krankenhaus wieder auf.
Du hast aber vorhin erzählt, man behandelt ihn in Berlin.
Wie kam es denn dazu?
Ja, tatsächlich ist er also
in eines der näher gelegenden Krankenhäuser gebracht worden,
in dem Fall in Nipro, wo er zunächst notoperiert wurde.
Und dann hat man ihn von Nipro in Spital nach Kiew verlegt.
Also, möglichst weit weg von der Front oder vom Kriegsgeschehen?
Weit weg von der Front, genau.
Aber dort in Kiew kommen die Ärzte dann auch zu dem Schluss,
dass sie den Arm nicht retten können.
Sie müssten also amputieren,
aber vielleicht schaffen es deutsche Spezialisten.
Deswegen wird er mit einem Krankenwagen nach Polen gefahren
und von dort nach Berlin geflogen.
Man muss einfach wissen, dass die Ukraine
inzwischen wirklich sehr viele schwer verletzte Soldaten hat.
Die New York Times hat gerade aktuell berichtet,
dass in diesem Krieg nach amerikanischen Schätzungen
500.000 Soldaten auf beiden Seiten getötet oder verletzt wurden.
Und davon 120.000 verwundete Ukraine.
120.000 teilweise schwer verletzte Soldaten.
Damit wäre jedes Gesundheitssystem überfordert.
Und deswegen wären eben viele Soldaten
mit langwierigen und sehr schweren Verletzungen
als Hilfsleistung in EU-Ländern behandelt.
Und Sergei gehörte halt zu denjenigen,
die dieses Glück hatten oder haben,
in einem Krankenhaus in einem EU-Land behandelt zu werden.
Also das heißt, nur die schlimmsten, komplexesten Fälle,
die kommen in europäische Spitäler?
Ja, weil es handelt sich da um Soldaten oder Patienten,
die vielfach auch Intensivbetten belegen.
Und das über mehrere Monate, das können die Ukrainer nicht leisten.
Die brauchen diese Betten.
Deswegen gibt es eben diese Bereitschaft der EU-Staaten,
den Ukrainer bei der Versorgung ihrer Schwerverletzen zu helfen.
Da gibt es sozusagen eine Art EU-Mission.
Die gibt es seit vergangenen September und bis Anfang Juli dieses Jahres.
Sind über 2.000 Patienten in europäischen EU-Staaten behandelt worden.
Nach einem speziellen Verteilschlüssel.
Und darunter sind auch 750 nach Deutschland gekommen,
die dann hier auch innerhalb Deutschlands
auf die verschiedenste Krankenhäuser verteilt wurden.
Einer von ihnen ist eben Sergei, der jetzt in Berlin liegt.
Genau, weil das Bundeswehrkrankenhaus in Berlin
ist spezialisiert darauf,
sehr komplizierte Verletzungen von Extremitäten,
Knochen und Weichteilen zu behandeln.
Und die Militärärzte haben sich Sergei angeschaut
und haben also entschieden, dass seine sehr schwer verletzte Schulter
für sie tatsächlich rekonstruierbar ist.
Das heißt also, eine Amputation nicht notwendig ist,
sondern sie sind in der Lage, diese Schulter zu rekonstruieren.
Also das heißt Sergei wurde mehrfach operiert in diesem Berliner Militärspital.
Ist sein Arm gerettet und wie geht es ihm denn jetzt?
Es ist ihm jedenfalls gelungen, die Entzündung in den Griff zu kriegen.
Und deswegen ist der Arm auch sozusagen erst mal gerettet.
Und jetzt geht es darum, diesen Arm zu rekonstruieren.
Die sind damit schon sehr weit vorangekommen,
als ich Sergei besucht habe.
Dabei hat er mit den Fingern seiner rechten Hand auf seinem Handy gewischt.
Das heißt, er konnte diese Hand bewegen
und konnte diese Finger sozusagen bedienen.
Und der behandelnde Chefarzt sagte damals zu mir,
das sei ein wirkliches Wunder, dass der Mann das kann.
Denn in Anbetracht der Schwere der Verletzungen
sei das im Grunde nicht zu erwarten gewesen.
Und dieser Arzt kennt sich wirklich aus mit Kriegsverletzungen.
Denn der war selbst schon mehrfach in Afghanistan
und in anderen Einsatzgebieten der Bundeswehr.
Das heißt, er kennt sich wirklich aus, der weiß, was er sagt.
Sergei hatte also Glück, von diesem Spezialisten operiert zu werden.
Seine Schulter wurde aufwendigst in Zick-Operationen rekonstruiert.
Mit Erfolg, offenbar, wie du beschrieben hast.
Wenn er bereits über das Smartphone swipen kann.
Wer kommt eigentlich auf für all die Kosten,
die damit verbunden sind?
Tatsächlich ist das eine wirklich nicht zu verachtende humanitäre Arbeit
und Hilfsleistung, die europäische Staaten oder auch Deutschland
hier leisten für die Ukraine.
Die ukrainischen Verwundeten in Deutschland bekommen einen Asylstatus.
Das heißt, die Behandlung läuft über die ganz normale Krankenversicherung
für diese Soldaten, für die deutsche Krankenversicherung.
Wie hoch die genauen Kosten sind,
das wird von den deutschen Behörden nicht gesagt.
Ich kann davon ausgehen, dass diese Leistungen
auch für die Militärärzte zumindest eine Erweiterung ihrer Erfahrungen
bei der Behandlung von schweren Kriegsverletzungen sind.
Denn solche Verwundungen, wie sie jetzt bei ukrainischen Soldaten sehen,
haben sie das letzte Mal während des Afghanistan-Krieges
bei Bundeswehrsoldaten gesehen, aber schon längere Zeit nicht mehr.
Insofern dient die Behandlung ukrainischer Soldaten
auch als Training für deutsche Ärzte.
Aber für Sergei ist es ein riesiges Privileg.
Ein Glück hast du vorhin gesagt,
dass er diese Behandlung durch Spezialisten bekommt,
weit weg vom Kriegsgeschehen.
Und jetzt, wie geht es weiter mit Sergei?
Man kann zwischen einzelnen Operationen, wo man bestimmte Zeit lassen
und der Wiederaufbau von Gewebe und von Knochen, Knochenmark braucht Zeit.
Als ich dort war, hat man mir gesagt,
dass er in den nächsten Tagen wieder operiert werden soll.
Also jetzt demnächst.
Und es werden sicherlich noch weitere Operationen folgen.
Aber das sagt mir die Ärzte.
Eine Amputation steht nicht mehr im Raum.
Darum muss er sich nicht mehr sorgen.
Sondern es geht jetzt darum, das zerstörte Schultergelenk
so weit wiederherzustellen, dass er den Arm wieder auch bewegen kann.
Also nicht nur die Finger, sondern auch den Arm richtig bewegen kann.
Aber wie weit das gelingen wird,
ob er jemals wieder mehr tun kann,
als mit den Fingern über das Handy zu wischen,
das kann natürlich niemand sagen, das ist unklar.
Aber er, Sergei, sagt auf meine Frage hin,
was tust du denn, wenn du dieses Spital hier in Berlin wieder verlassen kannst?
Ganz klar, und wie aus der Kanone geschossen,
ich will zurück an die Front.
Okay.
Wie erklärst du dir das,
dass er zurück will in den Krieg nach all dem?
Er ist nicht der einzige ukrainische Soldat, der so denkt.
Es gibt an der Front unzählige Soldaten,
die die schwere Verletzungen davon getragen haben
und die wieder kämpfen.
Es gibt Bilder von Soldaten, beispielsweise ohne Hand,
die eine Waffe in dem Arm halten und dann nur mit einer Hand bedienen können.
Ich denke, das ist bei Sergei, wie bei vielen Soldaten,
die dann sagen, sie haben ein schlechtes Gewissen
gegenüber ihren Kameraden, während sie im Krankenhaus liegen
und genießen, sind die Kameraden an der Front,
bleiben dort, kämpfen dort, sterben dort.
Ganz klar, ich kann meine Kameraden nicht alleine lassen.
Das ist das Denken auch von vielen Verwundeten
und verletzten ukrainischen Soldaten.
Sergei sagte mir, da geht es für ihn darum,
seinen Land zu verteidigen, die Angreifer zu vertreiben.
Er sagt, wir kämpfen bis zum Tod.
Liebe Marco, du lässt mich nachdenklich zurück.
Ich danke dir vielmals, dass du uns die Geschichte von Sergei erzählt hast.
Sehr gerne, liebe Marlin.
Liebe Grüße nach Berlin.
Das war unser Akzent.
Produzentin dieser Folge ist Alice Groschon.
Ich bin Marlin Öler. Bis bald.
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Sergei Krawtschenko kämpfte bei Bachmut, bis er schwer verletzt ins Spital in Dnipro eingeliefert und später nach Berlin verlegt wurde. Er ist einer von über 2000 kriegsverletzen Ukrainern, die in EU-Staaten behandelt werden.
Heutiger Gast: Marco Seliger
Host: Marlen Oehler
Produzent: Alice Grosjean
Weitere Informationen zum Thema: https://www.nzz.ch/international/im-krieg-verletzter-ukrainer-spezialbehandlung-in-deutschland-ld.1749691
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