NZZ Akzent: 42 Jahre Lehrer: Hr. Tanners Lektionen

NZZ – täglich ein Stück Welt NZZ – täglich ein Stück Welt 10/24/23 - Episode Page - 16m - PDF Transcript

Du erzählst uns heute auch ein bisschen persönliche Geschichte.

Ja, ich war neulich im Schulhaus, in dem ich die Primarschule besucht habe.

Es war das Schulhaus, in dem ich den ersten Liebesbrief bekommen habe, in dem ich mir

die Zähne ausgeschlagen habe.

Also alles, was wichtig ist im Leben, hat sich da schon angewandt.

Okay, aber warum warst du denn in deinem alten Schulhaus?

Ja, es war der letzte Schultag meines Vaters.

Er war 42 Jahre in diesem Schulhaus Lehrer, der Dorflehrer sozusagen, zumindest einer davon.

Und wir haben aus Familie ihn da besucht, haben den Kindern noch Eis verteilt,

bevor es dann in die Schulferien ging und bevor er dann pensioniert wurde.

Warst du auch bei ihm in der Schule?

Nein, das war ich nie.

Ich war einen Stock drunter bei einem anderen Lehrer.

Aber ich kannte natürlich sein Schulzimmer auch und wir haben uns dann aus Familie

da in die letzte Reihe gesetzt auf einen kleinen Kinderstuhl, haben ihm zugeschaut,

wie er mit den Kindern ein letztes Lied noch angestimmt hat auf dem Klavier.

Ja, ich habe mich da ein bisschen gefragt.

Jetzt in dieser Zeit, gerade in der Schweiz, auch immer wieder über die Schule gesprochen wird,

was soll die Schule eigentlich heute sein, was sollen Lehrerinnen und Lehrer heute sein?

Da habe ich mich gefragt, was ist das eigentlich, ein guter Lehrer oder eine gute Lehrerin?

Hansjörg Tanner stand 42 Jahre lang vor Schulklassen.

Was er dort lernte und lehrte, hat er seinem Sohn erzählt.

Inland-Redaktor Samuel Tanner über die Lebenslektionen eines Lehrers.

Ich bin Antonia Moser.

Samuel, als du dort hinten in dem Klassenzimmer saß, hast du gesagt, auf den Kinderstühlen.

Wie war das für dich?

Ja, es war schon speziell.

Ich hatte das Gefühl, in dem Schulzimmer gab es eine gewisse Spannung.

Einerseits zwischen diesen Kindern, die am Anfang des Lebens stehen, für die alles irgendwie Aufbruch ist

und meinem Vater, für den etwas ganz Langes und Großes zu Ende ging.

Und dann wurde da auch irgendwie meine eigene Kindheit wieder aufgeführt.

Ich sah ins Dorf hinaus durch das Schulfenster und auch ein bisschen zurück in meine eigene Vergangenheit.

Also deine Vergangenheit, wo ist denn dieses Schulhaus?

Ja, dieses Schulhaus steht in Marbach.

Das ist ein kleines Dorf im St. Galler-Rheintal.

Da gibt es eigentlich den Rhein, ein paar kleine Dörfe, ein paar Schraubenfabriken und sonst nicht viel.

Da bin ich aufgewachsen.

Lebe jetzt nicht mehr dort, aber ich kenne natürlich noch viele Leute, erst im Turmfreien und so weiter.

Also wirklich dort verwurzelt, so wie auch dein Vater, nehm ich an?

Ja, genau.

Er ist zwar nicht in Marbach aufgewachsen, aber er kam mit 22 Jahren aus der Stadt, aus St. Gallen,

da ins Dorf, direkt nach der Ausbildung.

Und er hat dann da meine Mutter kennengelernt, er hat eine Familie gegründet, also meine zwei Geschwister und ich kam dann irgendwann zu dieser Familie dazu.

Und ja, er ist dann da sein Leben lang geblieben.

Das kann man sich heute nicht mehr so vorstellen, ein Leben lang dieselbe Stelle, dieselbe Schule.

Ja, das stimmt, aber ich glaube er war auch der Typ dazu, er musste jetzt nicht noch zwei, drei andere Schulgemeinden unbedingt sehen.

Und dann, glaube ich, muss man nachsehen, es war eine völlig andere Zeit, es waren die 80er Jahre.

Er hat sich da noch beworben auf eine Annonce, die hieß, tüchtige Bewerberinnen finden bei uns günstige Klassenbestände und neu zeitlich eingerichtete Schulräume.

Also das klingt schon ein bisschen nach einer anderen Zeit.

Und damals war es auch ein Teil der Bedingung, dass er da in dem Dorf auch wirklich lebt, dass er sich irgendwie zeigt, dass er präsent ist.

Das gehörte zum Dorflehrer dazu.

Auch eine andere Rolle, die der Lehrer damals hatte?

Ja, genau, er war die Ausrichtät im Dorf.

Mein Vater hat mir später einmal erzählt, dass die alten Lehrer in der Sekundarschule auch noch Krawatte trugen.

Also das war ein anderer Groove, der da im Schulzimmer herrschte, würde ich sagen.

Aber dein Vater, der hat das dann ein bisschen anders gemacht?

Ja, ich glaube, er ist schon ein anderer Typ, er war damals ein junger Lehrer dann.

Und wenn ich ihn jetzt so erinnere, dann trägt er kurze Hosen und ein kurzer Arm hemmt.

Das war so seine Lehreruniform, weil ihm war auch wichtig, dass die Schule draußen stattfindet.

Er ging mit den Kindern in den Wald, er fuhr Fahrrad und da ist das mit Krawatte vielleicht nicht so praktisch.

Genau.

Du hast gesagt, er ging viel raus, war ihm das besonders wichtig beim Schule geben?

Ja, sag dir mir, weißt du, das Leben lernte ich mehr als die Schule.

Also beim Unterrichten war es immer wichtig, dass man, dass man Sachen aus dem Alltag, aus dem Leben,

aus irgendwo im Unterricht tragen kann.

Er sagte den Kindern, hey, schaut raus, was da draus passiert, sie schaut den Vögel nach,

sie haben beobachtet, welche Bäume wachsen und welche nicht.

Und das klingt wahrnehmend, was rund um sie herum passiert?

Ich glaube, er hat eher in der Welt draußen den Schulstoff gesucht,

als aus dem Schulstoff sozusagen die Welt zu machen.

Und Naturvögel, hat er denn da keinen Lehrplan, wo er sich dran halten musste, was jetzt gelehrt werden muss?

Doch, doch, ich glaube, da hat er sich schon dran gehalten.

Ich würde einfach sagen, ich habe vielleicht die Prioritäten ein bisschen anders gesetzt.

Also, ich glaube, er hat so papierene Themen wie die Pfahlbauer oder so.

Die hat er ein bisschen weggelassen und vermehrt das beachtet,

was wirklich in der unmittelbaren Natur draußen, in der unmittelbaren Umwelt passiert.

In der vierten Klasse, zum Beispiel, hat er in das Dorf gezeigt,

in der fünften, den Kanton, in der sechsten, die Schweiz.

Wenn die Tour der Swiss Stadt fand, dann hat er mit ihnen Distanzen ausgerechnet

und so vielleicht Mathematik beigebracht.

Ja, es war ein praktischer Anlass, wo man schauen konnte,

wo die Dürren fahren, woher kommen sie?

Er hat sie dann mit diesem Plan der Tour der Swiss vielleicht auch noch die Alpenpässe gelehrt, solche Dinge.

Also, die Alpenpässe habe ich nie gelernt.

Ja, ich habe sie zumindest halb noch in Erinnerung.

Aber ich glaube, es ging auch nicht nur darum.

Er wollte einfach, glaube ich, die Kinder möglichst alle irgendwie abholen.

Also, er sagte immer, du musst sie irgendwie packen können,

ob es jetzt mit Schulstoff ist oder mit sonst was.

Sie müssen sich irgendwie für irgendwas interessieren.

Aber für ein Lehrer, der gerade pensioniert wurde,

das hört sich doch sehr zeitgemäß an, also irgendwie so das Interesse der Kinder wecken.

Ja, das stimmt.

Ich habe mich das auch überlegt, aber ich glaube, schon er war auch anders.

Also, er war schon auch alte Schule.

Und das heißt?

Er sagte zum Beispiel, ich war ein tüpflicher Eisser.

Also, mit anderen Worten, er war sehr genau.

Und er hat vielleicht auch zum Teil pedantisch darauf geschaut,

wie die Kinder zum Beispiel ihr Pult aufgeräumt haben.

Ich bin davon überzeugt, dass es im Leben nicht nur in der Schule,

sondern vor allem später im Leben einfach Situationen gibt,

wo wir einfach nicht mehr sagen, ja, wir haben ja ab fünf Grad.

Ja, ich glaube auch, dass die Struktur für ihn wichtig war,

dass die Kinder einfach wussten, woran sie sich halten müssten.

Er hat auch klare Regeln aufgestellt.

Zum Beispiel?

Ja, schon am ersten Schultag hat er offenbar einen Zettel dabei.

Und da stand dann so drauf, alle müssen mitspielen dürfen.

Oder man muss still sein, wenn der Lehrer spricht.

Und diesen Zettel hat er auch bis heute aufbehalten.

Okay.

Und ich nehme an, neben diese Regeln hat er dann auch streng eingehalten,

wenn du sagst, er war ein tüpflicher Eisser.

Ja, das glaube ich schon.

Also, sein Unterricht begann auch wirklich jeden Morgen genau gleich.

Also, zuerst hat er allen Kindern die Hand geschüttelt.

Das war ihm sehr wichtig, um zu sehen, wer ist schon wach,

wer hatte schon Streit, wer ist noch müde.

Und dann haben sie zusammen gesungen.

Er saß ans Klavier und die Kinder standen da rundherum.

Und dann hat man gesungen.

Das war wirklich jeden Morgen genau gleich.

Aber es klingt jetzt auch nicht super streng.

Also, die Handschütteln und Klavierspielen zusammen singen.

Ja, das stimmt.

Ich glaube, wenn der Unterricht begann,

war es dann schon auch noch mal eine Runde ernsthafter.

Es hat auch geheißen, wenn er immer mit dem Fahrrad in die Schule fuhr.

Und wenn er dann nicht pfeife auf dem Fahrrad,

dann wäre es wirklich streng den Tag durch.

Also, ich glaube, er war schon auch streng.

Er hat gerne frontal unterrichtet,

damit die Kinder sieht, dass er ihn in die Augen schauen kann.

Und ja, er hat sich dann auch irgendwann zu hinterfragen begonnen,

als dann jüngere Lehrer ins Schulhaus kamen.

Da sagte er mir, da hatte er eine kleine Krise.

Warum denn?

Ja, die hatten einen ganz anderen Stil.

Da waren die Momente, die bei jüngeren Kollegen

da zum Teil anders gemacht werden.

Die waren viel lockerer.

Die Kinder durften das Schulhaus rennen, die Türen zu knallen.

Alles war irgendwie easy, alles war möglich.

Und das hat ihn dann schon etwas aus der Bahn geworfen mit seinem Stil.

Und da fragte er sich, bin ich überhaupt noch zeitgemäß?

Was macht er dann?

Ja, er war um diese Zeit ungefähr 40 Jahre alt.

Und er hatte dann einen Bildungsurlaub.

Das können Lehrer beantragen.

Sie können in einen Beruf hineinschauen,

in eine Welt, in die die Kinder dann später auch einmal eintreten werden.

Er hat in einer Polymechaniker-Werkstatt mitgearbeitet.

Das Bildungsurlaub, in der ich in einer Polymechaniker-Leerlingswerkstatt

dann bei vier Wochen lang war,

hat mir einfach gezeigt, dass das Kind da sein könnte.

Dass er etwas annehmen könnte, einen Auftrag annehmen

und dann entsprechend so ausführen.

Wo ihm dann auch ein Lehrling zum Beispiel gesagt hat,

dieses Tuch kommt genau hier hin, dieses Werkzeug genau dort hin.

Und so will es der Chef.

Ja, es sind einfach irgendwelche fragsätzte Situationen,

die die meisten im Leben irgendwann erleben.

Und da hat er dann schon auch gemerkt,

dass dieses typische Eisertum, würde ich jetzt mal sagen,

doch nicht so falsch ist,

dass es schon irgendwie gut ist, wie er es in der Schule macht.

Also bleibt es einem Prinzip in Treu und bleibt der strenge Lehrer?

Ja, ich glaube, das ist ihm schon wichtig.

Auch wenn man jetzt sagen muss,

die Situation in deinem Schulzimmer,

das muss man sich nicht so vorstellen wie auf dem Kasernenhof.

So war es nicht.

Aber es war ihm einfach wichtig, es gibt weiterhin Prüfungen,

Kinder werden benötigt zum Beispiel.

Aber auch, dass man Schwäche zeigen kann.

Das hat er auch vorgelebt.

Und wie hat er das gemacht?

Er hat zum Beispiel mir gesagt, er habe nie zeichnen können,

von Anfang an.

Wenn ich nicht drunter geschrieben habe,

was ich zeichnet habe, was den Kindsgefühl hat,

hätte ich da so darstellen sollen.

Und wenn er dann einen Elefant an die Wandtafel gemalt hat,

dann hat er drunter geschrieben, Elefant.

Weil sonst hat es niemanden gemerkt.

Okay.

Genau.

Oder wenn er auf der Schultreise war,

er hatte Angst vor Hunden.

Das habe ich wiederum gemerkt und auch geerbt.

Es hätte ja die Szene nicht gegeben,

wo entweder den Kind gerade sich mit dem Hund beschäftigt hat,

bis er vorbei war,

oder dass wir auch mal in der Mitte genommen haben,

bis wir beim Hund vorbei waren.

Und wenn er dann auf der Schultreise war,

gab es auch Klassen, die ihn dann in die Mitte genommen haben.

Weil sie wussten, dass er Angst hat

und weil man das auch wissen durfte.

Das war ihm wichtig.

Ist irgendwie rührend,

wenn die Schüler sich so um den Lehrer kümmern, oder?

Ja, ich glaube, das wollte er ihnen auch irgendwie beibringen,

dass man es im Leben mit Menschen zu tun hat.

Weil jeder Mensch seine Stärken hat und seine Schwächen hat.

Und wenn man offen dazu steht,

dann ist er auch weniger Stress, auch für Kinder.

Weil sie nicht immer das Gefühl haben,

sie müssten jetzt bei allem zu einem Topgut ziehen.

Und ja, auch zu zeigen, hey, du bist mir nicht egal.

Ja, das hat er den Schülern vorgelebt.

Wie hat er das denn im Alltag umgesetzt?

Also in dem Schulunterricht?

Ja, da gab es auch Konflikte, hat er mir erzählt.

Also, wenn zum Beispiel jemand frech war,

dann hat er das Kind nicht einfach in eine Eck gesetzt

und gesagt, hey, schreib einfach 10.000-mal irgendwas ab.

Bravaufgabe.

Genau, sondern er hat gesagt, wir sitzen jetzt zusammen

und wir besprechen das, und zwar so lange,

bis wir eine Lösung gefunden haben.

Ich glaube, die Schüler haben das zum Teil nicht so gut gefunden,

da hat er unmittelbar, aber es war seine Art zu zeigen,

hey, du bist mir wichtig, wir wollen das jetzt zusammen angehen.

Hast du das als Sohn auch so wahrgenommen?

Ja, bei mir war es vielleicht ähnlich wie mit den Schülern und Schülern.

Also in dem Moment habe ich mich auch genervt oder gedacht,

ja, warum muss ich jetzt immer ein Velo-Helm anziehen

oder warum muss ich immer die Schuhe schön hinstellen?

Aber jetzt sehe ich im Rückblick oder habe ich auch gemerkt,

als ich jetzt recherchiert habe oder mit ihm gesprochen habe,

das war ihm wichtig und das war irgendwie auch wichtig,

weil er die Dinge nicht schleifen lassen wollte,

weil es ihm nicht egal war.

Und so sehe ich im Nachhinein schon, was alles für einen Sinn hatte.

Das tönt für mich jetzt alles sehr positiv,

also alles in allem ein guter Lehrer.

Ja, ich sage, das ist natürlich alles so.

Und das ist mein Blick, persönlich gefärbter Blick,

sicher liebevoller Blick, würde ich auch sagen.

Aber ich könnte mir schon auch vorstellen,

wenn man diese Geschichte hört, dass man vielleicht denkt,

ja gut, der ist ein altmodischer Lehrer und so weiter.

Aber ich glaube, ihm war einfach wichtig,

die Werte, die er hatte von Anfang an,

die irgendwie zu behalten und die nicht für irgendwelche Moden aufzugeben,

dass die Schule auch sich kümmern muss,

um das, was außerhalb des Schulzimmers stattfindet,

was im Leben sonst so passiert,

dass man auch genau sein muss manchmal,

dass man manchmal auch machen muss, was einem gesagt wird.

Und ja, das finde ich schon,

das nehme ich zum Beispiel jetzt auch mit

aus den Gesprächen, die ich mit meinem Vater jetzt hatte.

Andere sind schon Lehrer als Vater.

Ja, ich hoffe, es sei nicht allzu schwierig gewesen.

Ja, es sei nicht allzu schwierig gewesen.

Samuel, Lehrer, für dich wäre es nie was gewesen.

Ja, ich glaube, schonalistisch ist ja so eine Art

auch von Dorzieren und von irgendwie Vermitteln.

Aber wer weiß, vielleicht eines Tages.

Danke, dass du da warst. Danke.

Das war unser Akzent.

Produzentin dieser Folge war Alice Crojon.

Ich bin Antonia Moser. Bis bald.

Machine-generated transcript that may contain inaccuracies.

Hansjörg Tanner war sein ganzes Berufsleben lang Lehrer. Nach seiner Pensionierung erzählt er seinem Sohn, dem NZZ-Journalisten Samuel Tanner, was ihm dabei wirklich wichtig war.

Host: Antonia Moser

Produzent: Alice Grosjean

Weitere Informationen zum Thema: https://www.nzz.ch/schweiz/im-idealfall-kannst-du-alle-kinder-irgendwie-packen-auch-wenn-es-nicht-im-schulzimmer-ist-die-lektionen-eines-lehrers-ld.1751480

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